Jenseits von Mottram Hall
: Verfolgt in Eschwege

■ Sind Fußballfans Mörder, und was hat das alles noch mit Sport zu tun?

Wenn ich mich nicht täusche, sind dieser Tage mehr Engländer denn je auf bundesdeutschen Straßen unterwegs. Sie begegnen mir dutzend-, beinahe hundertfach, ob in Krefeld oder in Frankfurt/Main. Nur in Eschwege nicht, wohin es die Herren Gsella, Schiffner, Sonneborn und mich verschlagen hatte, um während des Open-Flair-Festivals die Begegnung Rußland – Deutschland vor huldigungsvollen Satirefans live zu kommentieren und zu deuten.

Das ist Jürgen ROTH

Sein Spieler: Andreas Möller. Sagen alle. Sag' ich auch.

Sein Team: Nur siegen ist schön. Deshalb: Deutschland. Der „Topfavorit“ (kicker), der „absolute Top-Favorit“ (Paul Breitner) bzw. „absolute Topfavorit“ (Friedel Rausch).

Europameister 96: Deutschland. Weil das der kicker sagt, und der kicker hat immer recht.

Alles lief wie am Schnürchen. Wir hatten uns mit den entsprechenden Hintergrundinformationen (Sexaffären, Morddrohungen, Harnsäurewerte) versorgt, eine versierte Dialogregie entworfen und gewagteste Witzstafetten eingeübt. Zum Beispiel wollten wir die russischen Spieler mit Namen wie Oblomow, Gontscharow, Majakowski und Müller belegen, und vor dem Spiel fiel mir sogar noch ein, daß der Ball durch den berühmten russischen Kreisel „wie am Kanonenschnürchen“ rolle, während Herr Sonneborn die schlechte deutsche Bilanz gegen Rußland dahingehend zu erklären gedachte, Stalingrad werde doppelt gezählt.

Um fünf vor vier enterten wir die Bühne des mit 300 Mann vollbesetzten Bierzeltes. Jubel brach sich Bahn, als Schiffner zum ersten Mal den linken Läufer eine „Pickel-Ziege“ nannte. Nicht mehr nach der dritten Bekanntgabe, und wie Herr Gsella über Pickel-Zieges aufplatzende Ekzeme (sein Hobby) zu dozieren begann, tönten aus dem tiefen Raume Volkes Gunstbezeugungen: „Wir wollen Rubenbauer!“

Es waren keine Engländer und keine Russen, diese Menschen, die da saßen und Fußball sehen wollten, ab Minute fünfzehn aber nicht mehr uns. Ich vernahm sogar ein Wort wie „Arschlöcher“, als wir nochmals und mit letzter Energie die Russen lobten („Trotzki, Stalin, schön gemacht“) und das deutsche Team auf versierteste Satirikermanier miesmachten („Pickel-Ziege verzogen“). Das wollte der Mob nicht.

Ob wir zur zweiten Halbzeit noch mal raus sollten, fragten wir uns im dunkel abgeschirmten Backstage-Bereich, aber Herr Gsella stiefelte tapfer voran und brillierte mit liebevollen Scherzen über Igel auf dem Spielfeld, die in Arztkoffer verstaut würden. Das Publikum jedoch jaulte: „Maul halten!“ In der achtzigsten Minute sagten wir: „Wir halten jetzt mal das Maul.“ Jubel. Gut so.

Nach dem Schlußpfiff analysierten wir backstage die rasante Performance beim Bier, da stürmte der besoffene Quetschgitarrist einer Eschweger Provinzkapelle unsere Schutzzone, griff in die Obstschale und bewarf uns mit frischen Früchten. Schiffner erlitt einen Kiwi-Treffer ins hämisch grinsende Satirikergesicht, unter schmählichen Reden zog der schweinisch schnaubende Dorfgitarrero Gsella und mir Bananen über den Schädel, sprang dann Sonneborn an und würgte ihn. Nach einer ersten Beruhigung der Szene merkte ich Augenblicke später gerade rechtzeitig, wie ein Dolch mit häßlichem Ratschen durch die ledrige Zeltplane stieß und schon an meinem Rückenmark spitzelte.

Die Security-Mannschaft eskortierte uns, mit durchdrehenden Rädern fegten wir über das Festivalgelände und entkamen in die Innenstadt. Beim hochverdienten Milchkaffee ruhten wir aus und schüttelten uns die Häme und das böse Gespött aus den lädierten Knochen. Thomas Gsellas Resümee: „Ich war selbst überrascht über meine gute Leistung.“

Sicher: Wir hatten „viel Staub aufgewirbelt“. Trotzdem frage ich Sie: Hat das alles noch was mit Sport zu tun? Jürgen Roth