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: Mein Leben als Rennratte

■ Museumsreife Multimedia: „Bad Day on the Midway“ von The Residents

Ein Luftbild von einem heruntergekommenen Rummelplatz. Als würden wir in einem Helikopter fliegen, bewegt sich unser Blick über die verwahrloste Anlage, die von einem atemberaubenden Sonnenuntergang in ein purpurnes Licht getaucht wird. Näher und näher kommen die düsteren Buden des Jahrmarkts, fast scheint man schon die ins Leere ragenden Dachbalken zu streifen. Da taucht plötzlich ein riesiges Neonschild auf, wie ein geheimes Signal in grellen Farben: „The Residents: Bad Day on the Midway“. Eine dumpfe Titelmusik in Moll legt schleppend los...

So ähnlich könnte ein Film beginnen. Coppolas „One from the heart“ zum Beispiel. Doch der abenteuerliche Flug über den Rummel, der stark an das abgewrackte Coney Island in New York erinnert, steht am Anfang der neuen CD-ROM- Produktion der kalifornischen Elektro-Avantgardeband The Residents. Dieses „interaktive Rollenspiel“ ist – wie schon sein Vorgänger „Freakshow“ – ein Quantensprung in der Multimedia-Entwicklung. „A Bad Day on the Midway“ ist nicht bloß wieder mal eine wahre Augenweide auf dem Computermonitor. Den Residents und ihrem Spieldesigner Jim Ludtke ist vor allem endlich gelungen, woran CD-ROM-Entwickler schon seit geraumer Zeit basteln: die Interaktivität von Computerspielen mit den psychologisch motivierten Charakteren des Spielfilms zu verbinden. Wenn es in ein paar Jahren das erste Multimedia-Museum gibt, wird dieses Rollenspiel garantiert zu den Exponaten gehören. Oder, um es kurz zu sagen, „Bad Day“ ist einfach geil, geil, geil...

Wie das „interaktive Geschichtenerzählen“ funktioniert, demonstriert gleich die erste Sequenz nach der Spielfilm- Einleitung: Wie aus dem Nichts taucht unter der schwer baufälligen Achterbahn der kleine Timmy in der Abenddämmerung auf und springt mit den Worten „Wow, this place's cool“ gleich mitten ins Spiel. In einer (Kamera-?) Bewegung, die eines Oliver Stone würdig wäre, bewegt sich unser Blick um Timmys Kopf herum und scheint von hinten in seinen Schädel zu fahren. Und plötzlich sehen wir die Welt durch Timmys Augen, den wir per Mausklick losdirigieren können, um die unheimlichen Attraktionen des Rummelplatzes zu erkunden: die Kill-A-Commie-Schießbude zum Beispiel, in der man auf Stalinfratzen schießen kann. Oder eine Geisterbahn, die einen an den „zehn besten Foltermethoden der Welt“ vorbeifahren läßt. In eine Holzhütte, in der „Lotti, der lebende Baumstamm“ eine grausige Vorstellung gibt. Oder zu der Show der tätowierten Stripteasetänzerin Dagmar.

Diese verlorenen Seelen sind nicht die einzigen Leute, die wir auf dem Rundgang kennenlernen. Es ist ein trauriger Haufen von Gescheiterten, die auf der Kirmes ein mageres Auskommen gefunden haben: Da ist der stotternde Versager Otto und der erfolglose Gelegenheitsdieb Jocko, die gescheiterte Country-Sängerin Dixie, deren Mann seit einem Unfall im Koma liegt, und ein graugesichtiger Finanzbeamter, der bei dem fahrenden Volk auf dem Rummel Steuern eintreiben will.

Genau da hakt es bei den normalen Computerspielen. Die Helden der meisten Games waren psychologisch Pappkameraden. Bei „Bad Day on the Midway“ dagegen kann man jede handelnde Person „von innen“ kennenlernen. Jedesmal, wenn wir einem der Akteure zwischen den Rummelplatzbuden begegnen, können wir den Charakter wechseln und von einem „Wirt“ in den anderen schlüpfen – sogar in die Rennratte Oscar!!! Und plötzlich nehmen wir die Welt nicht nur aus dem Blickwinkel unseres neuen Gastgebers wahr, wie mit der Squid-Technologie in Kathryn Bigelows „Strange Days“, nein, wir lesen sogar seine Gedanken: Unten auf dem Bildschirm läuft eine Art Stream of Conscious mit. „Wonder what my kid looks like now“, fährt es Otto, der seiner Familie davongelaufen ist, durch den Kopf, als er Timmy sieht. Und Dixies Schädel ist voll mit Gedanken an ihre Mutter, die damals viel zu jung gestorben ist.

Was dieses bruchlose Morphing von einer Identität zur anderen für Auswirkungen auf Erzähltechnik, Charakterentwicklung und Menschenbild in digitalen Medien haben könnte? Die 200 Zeilen, die in der taz für CD-ROM-Kritiken zur Verfügung stehen, reichen nicht aus, um mit den Spekulationen darüber auch nur anzufangen! Belassen wir's darum bei der Feststellung, daß es ganz schön komisch ist, die Welt einmal mit den Augen des irren Serienkillers Ted zu sehen, einmal (als Timmy) Teds Schmetterlingssammlung gezeigt zu bekommen und einmal (als Dixie) von Ted umgebracht zu werden.

Die Graphik von „Bad Day“ sieht aus, als hätte George Grosz als Zeichner der Disney- Studios unter der Regie von David Lynch ein Drehbuch von Lars von Trier bearbeitet. Oder so ähnlich. Schwer und schaurig schleicht die Musik der Residents um die Bilder. Und dank der neuen Software „Quicktime V.R.“ kann man sich sogar in 3-D durch den grausen Jahrmarkt bewegen. Das einzige Manko dieser Produktion ist leider, daß sie erst auf superschnellen Computern mit 16 MB-Arbeitsspeicher richtig läuft. Aber egal: Soviel morbiden Spaß wie bei „Bad Day“ hatte ich nicht mehr, seit ich als Zehnjähriger in einer Nacht mit der Taschenlampe unter der Bettdecke „Der illustrierte Mann“ von Ray Bradbury durchgeschmökert habe. Tilman Baumgärtel

The Residents: Bad Day on the Midway. Für PC und Mac, Inscape/Time Warner Interactive, ca. 100 DM. Die Residents haben auch eine Web-page: http:// www.csd.uwa.ca/ ;tzoq/Residents/