Jenseits von Mottram Hall
: Verlust der Courage

■ Im Fußball sind Typen mit Charakter out. Gefragt sind die Duckmäuser

„Diese EM ist am stärksten besetzt.“ – „Diese EM ist die interessanteste.“ Täglich überschüttet uns der Jubelverbund aus ZDF, ARD und DFB mit derartigen Superlativen und vernebelt uns die Sinne. Besäuselt von solch süßen Lügen, vergessen wir fast, daß viele der besten Spieler Europas nicht dabei sind. Das grenzt an Betrug. Man verkauft uns ein Spitzenereignis ohne Spitzenleute. Das ist so, als biete man ein Stones-Konzert ohne Mick Jagger an.

Das ist Joachim FRISCH

Sein Spieler: Kubilay Türkyilmaz. Weil selbst Werner Hansch keinen passenderen Namen für einen türkischstämmigen Schweizer erfinden könnte.

Sein Team: die Schweiz. Wegen Kubilay Türkyilmaz.

Europameister 96: die Schweiz. Falls England und Schottland noch rechtzeitig wegen Dopings disqualifiziert werden. Sonst Portugal.

Die meisten der Stars fehlen aus disziplinarischen Gründen. Ihr Fehler: Sie haben Charakter gezeigt. Nicht unbedingt guten Charakter, aber Charakter. Und Courage. Charakterkopf Vialli, Charakterzopf Roberto Baggio, der couragierte Kämpfer Cantona, die aufmüpfigen Effenberg, Matthäus und Davids sowie Ruud Gullit.

Nicht zufällig sind es die rebellischen Charaktere, die von ihren Trainern und Verbänden ausgebootet werden. Cantona flog, weil er einen Faschisten trat, eine allzu offen antifaschistische Aktion; Effenberg flog, weil er einer deutschtümelnden Clique den gestreckten Mittelfinger gezeigt hatte, eine allzu antinationale Aktion. Matthäus flog wegen allzu klinsi- und bertifeindlicher Aktionen, die die Friede-Freude-Eierkuchen-Atmosphäre zu störten. Zuletzt flog Davids, weil er seinen Trainer Guus Hiddink davor warnte, Spielern mit heller Haut in den Arsch zu kriechen, eine allzu antirassistische Aktion.

Rebellischer Charakter und proletarische Courage passen nicht in das neue Bild des Profifußballs als Fan-Event für die solvente Mittelklasse, jedenfalls dann nicht, wenn sie sich gegen Obrigkeit, Nation oder Kommerz richten. Im Namen des Vaterlandes darf dagegen gepöbelt und geprügelt werden. Stoitschkow kann sich so ziemlich alles erlauben, denn er ist „voller Nationalstolz“ (Kicker). Gascoigne darf sich als Vandale aufführen, solange er nicht gegen England blökt. Und der Kroate Boban wird in seiner Heimat als Volksheld gefeiert, weil er sich 1990 mit Polizisten geprügelt hat – mit serbischen.

All das liegt im Trend, und wie immer ist der DFB Trendsetter. Berti Vogts, der Kohl als Held der Wirklichkeit und Kohler als Held der Manndeckung verehrt, hat ohne große Geste sein Team von jeglicher Courage gesäubert. Matthäus erledigte sich selbst, Ziege erledigte Basler, Scholl hält die Klappe, und Vogts hat vor allem Klinsmann auf seine Seite gebracht, den Repräsentanten des neuen Fußballer-Typus: dynamisch, anpassungsfähig und jederzeit berechenbar, der ideale Werbeträger.

Diese EM ist tatsächlich eine EM der Superlative. Es ist die chauvinistischste und die spießigste, die es je gab; die EM der Nationalisten und Rassisten, der Duckmäuser und Schleimscheißer. Die EM, die den Fußball als Spiel endgültig zu Grabe trägt und ihn als Profit- und Machtinstrument etabliert.

Es bleibt kaum Hoffnung auf Gerechtigkeit in dieser neuen Welt. Die Niederländer fliegen erst im Viertelfinale gegen Frankreich raus, die diesen Triumph aber nicht verdient haben, wegen Cantona. Wenigstens die Italiener und den arroganten Sack Arrigo Sacchi ereilte die gerechte Strafe. Die Strafe für Hans-Hubert und seine infantilen Erwachsenen, der Rauswurf gegen Kroatien, ist noch nicht mal wünschenswert. Dieser Sieg würde den Präsidenten Kroatiens wahrscheinlich dazu ermuntern, einen neuen Krieg anzuzetteln.

Nein, bei dieser EM kann es keine Gerechtigkeit geben. Nur kleinere Übel. Joachim Frisch