Die Nato verschafft sich freie Hand

Deutschland beteiligt sich am amerikanischen Raketenabwehrprogramm „Meads“  ■ Von Eric Chauvistré

Zwar ist sich die Nato schon seit längerem nicht mehr sicher, wo ihr Feind steht, dafür weiß sie aber um so präziser, wie er zu bekämpfen ist. Während Mitte Juni die Verteidigungsminister bei ihrer Frühjahrstagung noch über die künftige Kommandostruktur berieten, war ein Bestandteil der künftigen Einsatzkonzepte bereits festgeschrieben: Im stillen hatten Bonn und Rom am 28. Mai die Beteiligung an einem US-amerikanischen Raketenabwehrprogramm besiegelt. Das „Medium Extended Air Defense System“ (Meads) soll Kurzstreckenraketen in der Anflugphase vom Himmel holen.

Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit widmet sich die Nato seit dem zweiten Golfkrieg der Frage, wie Nato-Eingreiftruppen gegen chemische, biologische und auch atomare Waffen geschützt werden können. Meads soll ein Anfang sein.

Während Fragen der Europäisierung der Nato-Strukturen und die mögliche Aufnahme osteuropäischer Staaten immer wieder zu Kontroversen führen, ist der Einstieg in die Raketenabwehr unter den Nato-Regierungen offensichtlich nicht umstritten: „Als Verteidigungsbündnis muß die Nato die Verantwortung übernehmen, Mittel und Wege sicherzustellen, um ihre Mitglieder gegen die Proliferationsrisiken zu schützen“, so das Abschlußkommuniqué der Berliner Frühjahrstagung der Nato- Außenminister.

Mehr als jedes Weißbuch der Bundesregierung macht die Beteiligung an Meads die Langzeitpläne der Hardhöhe deutlich: Beim nächsten Golfkrieg soll die Bundeswehr dabei sein. Denn speziell für solche Einsätze ist Meads konzipiert worden: Selbst atomar bestückte Raketen des Irak oder des Iran sollen den deutschen Einsatz zur Stabilisierung der Weltrohölpreise nicht behindern können.

Wenn die Nato in der Berliner Abschlußerklärung vom Schutz ihrer „Mitglieder“ gegen Proliferationsrisiken spricht, ist nicht etwa vom Schutz der Bevölkerung die Rede. Die Berichte einer speziellen Nato-Arbeitsgruppe sprechen eine deutliche Sprache: Es geht darum „die Handlungsfreiheit der Nato angesichts der Proliferationsrisiken zu bewahren“. Die Militärplaner wissen, daß es im besten Fall um die Abschirmung von Eingreiftruppen gehen kann. Laut offizieller Projektbeschreibung der US-Raketenabwehrbehörde ist Meads „ausgelegt für die Verteidigung eines begrenzten Gebietes und den Schutz eingesetzter Truppen“.

Bei einer Expertentagung im Februar 1995 baten Vertreter der Hardthöhe ihre Nato-Kollegen, die Funktion von Meads im Rahmen weltweiter Militäreinsätze herunterzuspielen: „Diese Fähigkeiten zu betonen könnte die Anstrengung für eine mobilere deutsche Streitkräftestruktur behindern“, so wörtlich offizielle Berichte des von der US-Raketenabwehrbehörde organisierten Seminars.

Bei Siemens und Daimler-Benz Aerospace (Dasa) sieht man einer Beteiligung an dem Milliardenprojekt seit langem entgegen: In einem im Juni 1995 erschienenen Beitrag für das Branchenblatt Wehrtechnik priesen leitende Ingenieure beider Firmen die vorhandene deutsche Expertise für das Projekt an. Der größte Anteil wird jedoch der US-Industrie zufallen, die das Projekt bislang unter dem Kürzel Corps-SAM betrieb.

David Johnson, Meads-Projektleiter beim US-Rüstungsgiganten Lockheed Martin, schätzt die Gesamtkosten für Entwicklung und Produktion auf 30 Milliarden US- Dollar. Wie hoch der deutsche Anteil daran sein wird, weiß derzeit wohl nicht einmal die Bundesregierung.

Seit Frankreich aus dem Projekt ausgestiegen ist, sind die im Februar 1995 vereinbarten Quoten nicht mehr gültig: Bonn und Paris sollten je 20, Rom zehn und Washington 50 Prozent der Kosten übernehmen. Sollte es bei dem französischen Nein bleiben, wird sich der deutsche Anteil auf mindestens ein Viertel erhöhen.

Für das Pentagon ist der deutsche und italienische Einstieg auch ein politischer Erfolg. Seit Ende 1993 wird Reagans einstiges Projekt für den „Krieg der Sterne“ mit dem neuen Konzept der „Counterproliferation“ legitimiert. Die neue Pentagon-Doktrin fordert, daß „US-Truppen befähigt werden, in jedem Konflikt mit generischem ABC-Waffeneinsatz zu kämpfen, zu überleben und zu siegen.“

Neben speziellen Waffen zur Zerstörung unterirdischer Bunker sollen vor allem Raketenabwehrsysteme die Unverwundbarkeit von Interventionstruppen sicherstellen. Zwar scheuen sowohl Nato als auch Bundesregierung offiziell vor der offenen militärischen Rhetorik der US-amerikanischen „Counterproliferation“-Doktrin zurück, spätestens mit dem Einstieg in Meads signalisiert Bonn jedoch sein volles Einverständnis mit dem Konzept.