Im Alltag der Kinder Geschichte entdeckt

■ Wo heute kleine Leute aus elf Nationen in Krippe, Hort und Kindergarten des Vereins Sternipark in der Wohlers Allee toben, spielten früher jüdische Kinder und lernten, in der Thora zu lesen Von Jens Michelsen

Nahe der Sternbrücke, über der giftigsten Straße der Republik, liegt eine der schönsten Straßen Altonas, die Wohlers Allee. Die Anfang des Jahrhunderts gebauten Häuser unter den Kastanien scheinen viele Geschichten zu bergen. Die des Gebäudes mit der Hausnummer 58 ist jetzt bekannt. Der Verein „Sternipark“, freier Träger von Kindertagesstätten, hat das Haus renoviert und dabei mit Unterstützung der Kirchengemeinde St. Johannis dessen Geschichte zutage gefördert. Wo heute Kinder aus elf Nationen herumtoben, spielten vor 70 Jahren jüdische Kinder.

„Das Jüdische Volksheim betreut in dem Kindergarten ca. 25 Kinder, von denen seit dem 1. 1. 1932 einige Kinder den ganzen Tag dableiben und verpflegt werden. Von Mittag ab werden täglich über 60 Kinder im Hort betreut. Das Essen wird unter ärztlicher Kontrolle zusammengestellt und im Volksheim zubereitet. Ein Teil der Hortkinder macht die Schulaufgaben unter Aufsicht eines Lehrers. Die übrigen Knaben und Mädchen werden gruppenweise mit Handfertigkeiten, Turnen, Singen u.s.w. beschäftigt.“ Als Tilly Zuntz im Februar 1932 der Hamburger Jüdischen Gemeinde vom Alltag im Kindergarten Wohlers Allee 58 berichtet, existiert dieser bereits zehn Jahre, getragen vom „Volksheim“-Verein und der Jüdischen Wohlfahrtspflege. Die mußte nach dem Ersten Weltkrieg außer bei Kriegsschäden auch bei der verstärkten Zuwanderung von Juden aus Osteuropa organisatorische Hilfe leisten. 1925 lebten im damals noch schleswig-holsteinischen Altona etwa 2400 Juden. Mehr als die Hälfte besaß nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Geflohen waren die „Ostjuden“ genannten Einwanderer vor Krieg, Hunger und antisemitischen Pogromen in Polen, Rußland und Rumänien. Hamburg verweigerte ihnen den Zuzug. Als „sehr schwierig“ bezeichnete deshalb 1927 Dr. Victor vom „Verband der jüdischen Gemeinden Schleswig-Holsteins“ die „Lage der ostjüdischen Kolonien in Altona und Kiel“, denn: „Das Anwachsen der ostjüdischen Kolonie in Altona“, berichtet Victor, sei „lediglich durch die ständige Praxis der Hamburger Fremdenpolizei verursacht, die seit Jahren den Zuzug von Ostjuden nach Hamburg unterbindet“.

Die Jüdischen Gemeinden und die Vereine greifen zur Selbsthilfe. Der Kindergarten hat dabei eine zentrale Bedeutung für die Einwandererkolonie zwischen Schulterblatt und Holstenstraße. Auch die Hamburger Jüdische Gemeinde fördert ihn, obwohl er in Altona liegt und beide Gemeinden noch getrennt sind. Auch das religiöse Leben der Ostjuden spielt sich in seiner Nachbarschaft ab. Gleich um die Ecke in der Adolphstraße 69 (heute Bernstorffstraße) gab es schon seit 1920 eine kleine, versteckt gelegene Synagoge. In der Wohlers Allee 62 wurde 1928 von dem ostjüdischen Verein „Ahavat Thora“ eine Synagoge eingerichtet. Noch vor 1933 spitzt sich die Lage für die zugewanderten Juden dramatisch zu. Übergriffe werden alltäglich, Kindergarten und Volksheim kämpfen ums materielle Überleben.

Bis 1936 kann der Kindergarten in der Wohlers Allee noch betrieben werden. Dann kommen die Kinder in die Grünestraße, das traditionelle Zentrum der Altonaer Gemeinde. Mittlerweile sind viele Juden vor Verfolgung und Verarmung geflohen. Auf der Generalversammlung des Volksheims am 1. September 1938 teilt Tilly Zuntz das offizielle Ende des Kindergartens mit. Sie ist gezwungen, ihr Amt als stellvertetende Vorsitzende, „infolge Auswanderung niederzulegen“.

Einige Zeit diente das Haus drei Familien als Wohnung, dem Verein „Ahavat Thora“ im Erdgeschoß für Gottesdienste. 1942 wird es – wie viele andere jüdische Gebäude – nach der zwangsweise verordneten Übernahme durch die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ der Stadt Hamburg überlassen.

Das Unrecht wird Anfang der 50er Jahre zum Verhandlungsthema zwischen der „Jewish Trust Corporation“ und der Stadt Hamburg. 1953 wird ein Pauschalabkommen über 1,5 Millionen Mark unterzeichnet, das insgesamt zehn Gebäude aus jüdischem Besitz betrifft. Im Vertrag heißt es, daß diese Pauschalsumme „unter der Summe der Verkehrswerte und der nicht ausbezahlten Nutzungen, die den Rückerstattungsberechtigten rechtens zustanden“, liegt.