Kleine nachbarliche Gemeinheiten

Für die Nicaraguaner sind die Costaricaner freudlose Sexmuffel und Ordnungsfanatiker, für die Costaricaner sind ihre nördlichen Nachbarn sorglose Chaoten ohne politische und wirtschaftliche Stabilität  ■ Von Werner Mackenbach

Kürzlich berichtete die nicaraguanische Presse in reißerischer Aufmachung über eine angebliche „Bande von Lesben“, die junge Mädchen nach Costa Rica entführe, „zu unbekannten Zwecken“. Garniert waren diese Sensationsberichte mit der Geschichte einer Vierzehnjährigen, die von einer Neunzehnjährigen „vergewaltigt“ worden sei, die Rede war von zerrissenen Hymen... Gleichzeitig wurden groß aufgemachte Artikel über weiblichen und männlichen Sextourismus in Costa Rica publiziert. Nur wenig später informierten die gleichen Blätter voller Stolz über eine Umfrage der Zeitschrift Panorama Internacional zu den sexuellen Gewohnheiten der Bevölkerungen in den zentralamerikanischen Ländern. Danach sind die nicaraguanischen Männer die mit den meisten außerehelichen Aktivitäten: 62 Prozent gegenüber 32 Prozent Costaricanern, die im regionalen Vergleich auf dem letzten Platz landeten. Diese Umfrage ließ das Herz der nicaraguanischen Männer höher schlagen.

Diese Beispiele werfen ein Licht auf das nach wie vor vorurteilsgeladene Verhältnis zwischen Nicaraguanern und Costaricanern. Die Liste der gegenseitigen Vorurteile ist lang und alt. Ihre Wurzeln reichen bis in die Zeit der Conquista zurück. In der Region Mittelamerikas, in der Christoph Kolumbus auf seiner letzten Reise nach Amerika im Jahr 1502 auf Goldschmuck tragende Einwohner stieß, weshalb die Spanier ihr den Namen Costa Rica (Reiche Küste) gaben, wurden fast alle indianischen Ureinwohner mit Waffengewalt oder durch Seuchen und Krankheiten ausgerottet. Aus dieser historischen Tatsache entwickelte sich die nationale Legende, daß es in Costa Rica keine Indios, somit kein Mestizentum gebe, sondern die Einwohner direkte Nachfahren der Spanier seien. (Heute sollen noch etwa ein Prozent der Bevölkerung Indios sein.) Die Costaricaner fühlen sich so ihren zentralamerikanischen Nachbarn, den Indios (Synonym für dumm und arm) und Mestizen, überlegen; für die Zentralamerikaner stehen die Costaricaner auf der Seite der europäischen Eroberer. Hinzu kommen einige Besonderheiten der costaricanischen Geschichte. Im 16. und 17. Jahrhundert eine der ärmsten Regionen des spanischen Weltreichs, setzte mit der Einführung des Kaffeeanbaus von Kuba 1808 und mit der Zuwanderung europäischer Arbeitskräfte eine stetige ökonomische Aufwärtsentwicklung ein, die sich vor allem auf den Kaffee- und Bananenexport stützte. Damit einher ging eine schnelle kulturelle Entwicklung. Costa Rica verfügt heute zum Beispiel über die höchste Alphabetisierungsrate in ganz Lateinamerika (über 90 Prozent). Auch politisch gab es im Gegensatz zu den anderen Länden der Region eher eine ruhige Entwicklung. Seit den ersten Wahlen 1889, existiert von wenigen Unterbrechungen abgesehen in Costa Rica ein System der parlamentarischen Demokratie, das sich im wesentlichen auf zwei Parteien stützt. Diese Entwicklung führte dazu, daß sich die Costaricaner bald als die „Schweiz Zentralamerikas“ bezeichneten. Sie war aber auch der Nährboden für eine Reihe von Vorurteilen vor allem kultureller, rassischer und sexueller Art zwischen den ticos und ihren zentralamerikanischen Nachbarn. Besonders ausgeprägt sind diese Vorurteile auf sexuellem Gebiet. Traditionellerweise halten die Bewohner der anderen zentralamerikanischen Länder die costaricanischen Frauen für „leicht zu haben“, Huren, ein Vorurteil, das allen europäisch anmutenden Frauen entgegengebracht wird. Die Männer gelten als impotent und schwul – Vorurteile, die immer noch weit verbreitet sind.

Heute findet das gespannte Verhältnis immer wieder einen günstigen Nährboden in den unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der beiden Länder. Zwar hat Nicaragua mit dem Sturz der Somoza-Diktatur und mit der Wahlniederlage der regierenden Sandinisten 1990 ebenfalls Kurs auf ein System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie genommen. Die Regierung Violeta Chamorros hat einen neoliberalen Wirtschaftskurs eingeschlagen, der sich kaum von der Wirtschaftspolitik der Costaricaner unterscheidet. Gleichzeitig sind in der „Schweiz Zentralamerikas“ erste erhebliche Risse im sozialen Konsens aufgetreten, den Jahren der Ruhe sind Streiks und Demonstrationen gefolgt, die das Image vom Musterland stören.

Obwohl also eher eine Angleichung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verzeichnen sein sollte, klaffen die Bedingungen in den beiden Ländern immer weiter auseinander.

Nicaragua nimmt mit Schulden von zirka elf Milliarden US-Dollar inzwischen die Position des pro Kopf am höchsten verschuldeten Landes der Erde ein. Während in Costa Rica nur rund 20 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, liegt die entsprechende Zahl für Nicaragua wie für die anderen zentralamerikanischen Länder bei 70 Prozent. Mehr als die Hälfte der nicaraguanischen Bevölkerung lebt nach Studien des nicaraguanischen Sozialministeriums und der Vereinten Nationen unter Bedingungen extremer Armut. Als Hauptursachen werden die „neoliberale“ Politik der Strukturanpassung und das rapide Bevölkerungswachstum gesehen.

Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs zitierten Sensationsmeldungen. Während die Nicaraguaner sich nach kürzlich durchgeführten Umfragen stolz als „Kondommuffel“ bezeichnen, sehen die Costaricaner ihre schlimmsten Vorurteile gegenüber den sorglos vor sich hin lebenden und sich grenzenlos vermehrenden Nachbarn bestätigt. Für die Nicaraguaner bleiben die ticos die engstirnigen, individualisierten Ordnungsliebhaber, denen es trotz des relativen materiellen Wohlstandes an Lebensfreude fehlt.

Auch die politische Situation in Nicaragua in diesem Wahljahr fördert Vorurteile. Zu den Präsidentschafts-, Parlaments- und Bürgermeisterwahlen im Oktober 1996 werden voraussichtlich über 40 Parteien kandidieren. Auch nach sechs Jahren pluralistischem Parlamentarismus hat sich im Land noch kein funktionierendes Mehrparteiensystem herausgebildet. Hier scheinen sich die Vorurteile des südlichen Nachbarn zu bestätigen, daß die Nicaraguaner nicht in der Lage seien, ihre politischen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Auch die Polarisierung in das rechte Lager der „Liberalen“ mit dem Präsidentschaftskandidaten Arnoldo Alemán, der offen in der Tradition Somozas steht, und das linke der orthodoxen FSLN mit Daniel Ortega als Kandidat mag den ticos nach den leidvollen Erfahrungen der Nicaraguaner in den letzten Jahrzehnten unverständlich erscheinen. Diese von Populismus, Klientelismus und caudillismo geprägte politische Situation wird noch verschärft von massiver Korruption in weiten Teilen der Verwaltung und dem Einfluß des Drogenhandels in der nicaraguanischen Politik.

Hinzu kommt, daß vor allem der Norden) nach wie vor unter einer Welle der Gewalt zu leiden hat, zum Teil immer noch Folge des Bürgerkriegs der achtziger Jahre, zum Teil Reflex der rapide voranschreitenden Verarmung der ländlichen Bevölkerung. Obwohl der innere Krieg in Nicaragua 1990 offiziell beendet und die bewaffneten Gruppen demobilisiert wurden, starben seit jenem Jahr 1.600 Personen bei Aktionen bewaffneter Gruppen. Nach einer Studie über Risiken und Instabilität in Lateinamerika, über die kürzlich von der in London erscheinenden Latin American Newsletters berichtet wurde, lag Nicaragua bei 20 einbezogenen Ländern nach Kolumbien, Guatemala, Ecuador, Mexiko und Peru an sechster Stelle; Costa Rica war unter den ersten zehn Staaten nicht zu finden. Hauptfaktoren der Instabilität sind laut dieser Studie Unregierbarkeit, Gewalt und eine bedeutende Zunahme der Korruption.

Diese Unsicherheit behindert auch die touristische Entwicklung. Zu dem Mangel an Sicherheit kommen noch die fehlende Infrastruktur und das fehlende Know- how. Zwar wurde unter Somoza in den siebziger Jahren zusammen mit US-amerikanischen Konzernen der Versuch unternommen, das Land für die großen Touristenströme auszubauen, was jedoch an der Bereicherungssucht der Familiendynastie und an den politischen Wirren scheiterte. Während der sandinistischen Regierungsdekade war das Land aufgrund der extremen internationalen politischen Polarisierung und der Kriegssituation touristisch fast völlig auf dem Nullpunkt angelangt, abgesehen von dem Revolutions- und Alternativtourismus, der allerdings kaum Devisen brachte. In den letzten Jahren hat es Anstrengungen gegeben, das Land touristisch attraktiver zu machen; z.B. sind eine Reihe von durchaus internationalem Standard angepaßten kleineren und mittleren Hotels entstanden. Der riesige, ehemals Somoza gehörende Hotelkomplex Montelimar an der Pazifikküste ist renoviert und wiedereröffnet worden. Doch die kanadischen und europäischen Pauschaltouristen, die im Rahmen eines Zentralamerikatrips für ein paar Tage durch die Anlage geschleust werden, sorgen für keine Trendwende.

Dabei hätte Nicaragua große touristische, auch ökotouristische Reserven, auch wenn in großen Teilen des Landes die Umweltzerstörung bereits weit vorangeschritten ist. Abgesehen von den Strandbädern am Pazifik verfügt es über die in der Welt inzwischen nahezu einmalige Naturreserve des Rio San Juan im tropischen Regenwald an der Grenze zum südlichen Nachbarn, die touristisch zur Zeit noch vor allem von Costa Rica aus genutzt wird, den Nicaragua-See, einen der größten Binnenseen der Erde mit den Inselgruppen von Solentiname und Ometepe, eine einmalige Kette von Vulkanen in der Pazifikregion und schließlich die fast gänzlich unerschlossene Atlantiküste mit den Islas del Maiz.

Dennoch wird Nicaragua trotz des Einbruchs des Tourismus in Costa Rica wegen der jüngsten Entführung zweier europäischer Urlauberinnen touristisch nicht aufschließen können.

Das wird die gegenseitigen Vorurteile weiter befördern. Wie auch die kürzliche Meldung, daß die Entführer aus den Reihen der ehemaligen Contra stammen. Für die einen (ticos) ist das nur eine weitere Bestätigung dafür, daß ihre Brüder jenseits des Rio San Juan immer noch nicht den Guerillatarnanzug ausgezogen und die Kalaschnikow aus der Hand gelegt haben, für die anderen (nicas), daß die ticos sich nach wie vor in ihre ureigensten nationalen Angelegenheiten einmischen, indem sie bewaffnete nicaraguanische Gruppen beherbergen.