„Verdammt, ich bin doch nur Zivi!“

Allein unterwegs, wütend und überfordert mit diesem Alltag zwischen Krankheit und Kummer. Warum ein Zivi seinen Dienst in der häuslichen Pflege nicht mehr ausgehalten hat  ■ Ein Erfahrungsbericht von Frank M. Ziegler

Frau Schäfer* versprüht gute Laune, als sie die Tür öffnet: „Guuuten Morgeeen“, ruft sie fröhlich, „Na, da könne mir ja widdä losläsche! Isch glaub', heut hatter en ganz besonders dicke Bolle gemacht!“ Sie lehnt die Haustür vorsichtig an, „Kommt die Schwester Tanja glei?“ Ich schüttle den Kopf. Schwester Tanja kommt heute gar nicht. Heute darf ich Herrn Schäfers „dicken Bollen“ ganz alleine vom Bettuch kratzen. In den letzten Wochen kommt so etwas immer öfter vor. Es stinkt mir. Frau Schäfters gute Laune ebbt etwas ab. Sie geht voraus ins Schlafzimmer ihres Mannes. Hier stinkt es auch. „Morgen, Herr Schäfer!“ Ich schlage die Bettdecke zurück. Herr Schäfers „Bollen“ entpuppt sich als ausgemachter Durchfall. Die Windel hat nicht alles aufgefangen. Das Laken ist über und über mit Kot beschmiert. Herr Schäfer schnauft röchelnd.

Schwester Tanja hat mir zu Beginn meines Zivildienstes erklärt, was für eine Alterskrankheit er genau hat. Aber ich hab' es vergessen. Ich verwechsle so was eh dauernd. Jedenfalls bekommt er nichts mehr mit. Ich ziehe die Gummihandschuhe über. „Frau Schäfer, heute müssen Sie mir helfen. Das Bettuch muß raus.“ Frau Schäfer blickt gestreßt: „Schon widdä?“ Sie hat vergessen, das Waschwasser vorzubereiten. Sie ist halt auch schon 82. Ich schaue auf die Uhr: Das hier wird gut 15 Minuten länger dauern als geplant. Der Zeitplan meiner Tour ist schon wieder total im Arsch! Es ist 7.30 Uhr.

Der „Mobile Soziale Hilfsdienst“ macht knapp 30 Prozent der Zivi-Stellen in ländlichen Gegenden aus. Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonisches Hilfswerk: Sie alle sind auf die Hilfe der Zivildienstleistenden angewiesen, wenn es darum geht, die weit verstreuten Pflegefälle auf Bauernhöfen, in Dörfern und in abseits gelegenen Häusern zu versorgen. Ich schiebe Dienst bei der Caritas im Odenwald. Bergstraße. Seit ein paar Wochen habe ich mein eigenes Dienstfahrzeug. Den ersten Monat bin ich wechselweise mit Schwester Tanja oder Schwester Marion mitgefahren. Sie haben mir alles erklärt: Wundgelegene, faulige Fleischstellen nennt man Dekubitus. Die knallrote „Betaisadonna“-Salbe läßt sich aus den Kleidern nicht mehr auswaschen: also Achtung! Den Patienten niemals „aus dem Kreuz“ heben: Das macht die Bandscheiben kaputt. Ganz besonders gründlich waschen: Nabel, Zehen- und Fingerzwischenräume, Nackenfalten, Scheide und Penis. Nie vergessen, die Vorhaut zurückzuziehen und „das Weiße“ wegzumachen. Gründlich! Beim Insulinspritzen kann schon mal ein blauer Fleck entsteh'n. Nur keine Panik! Am besten zu Hause an einer Orange üben. Und so weiter, und so weiter.

Frau Rohr ist blind. Ihren Mann pflegt sie trotzdem

Bei Rohrs macht niemand die Tür auf. Ich drücke noch einmal die Klingel. Es ist Montag. Mist! Ich hätte heute morgen vor der Tour die Todesanzeigen durchsehen sollen! Schließlich war seit Donnerstag keiner mehr von uns ... „Ja bidde?“ Frau Rohr macht die Tür auf. „Wer issen da?“ „Hallo, Frau Rohr, ich bin's, Frank!“ Frau Rohr ist blind. Ihren Mann pflegt sie trotzdem. Glaubt sie. Eigentlich läßt sie ihn dahinvegetieren. Aber wer erklärt ihr das? Es stinkt schon im Hauseingang nach Urin. Ich wasche ihn. Ich schmiere Salbe auf die fauligen Stellen an seinem Rücken. Auf dem Nachttischchen steht neben der Muttergottesfigur ein altes Soldatenbild von Herrn Rohr. Er muß mal ein schöner Mann gewesen sein. Heute hat er keine Beine mehr. Frau Rohr jammert über ihre Tochter, „die schreibt uns neddemol ä Poschdkard“. Frau Rohr weint. Ich verspreche ihr, bei meiner Abendrunde Brot und Saft für sie einzukaufen. Sie schenkt mir ein Stück Rosinenkuchen. „Den hot uns die Fraa Serpurat gebracht“, sagt sie. Frau Serpurat ist die Nachbarin. „Bevor die in Urlaub g'fahrn ist“. Familie Serpurat ist seit zwei Wochen in Urlaub. Ich bedanke mich artig. Den Kuchen werfe ich draußen in den Müll.

Eigentlich ist jeder Zivi von Rechts wegen zu einem Lehrgang verpflichtet, in dem er seine Tätigkeit unter fachlicher Anleitung lernen soll. Nun, mein Lehrgang fand statt, nachdem ich schon sechs Monate Dienst geschoben hatte. Die Lehrgänge der Caritas, so hieß es, seien leider auf lange Sicht ausgebucht. Na ja. So toll war der eh nicht. Viel graue Theorie und viel Bier in der Kneipe. Aber mit der Zeit bekommt man ja Routine. Die wirklich „schweren Fälle“ verteilen sich über die ganze Woche. Und an manchen Tagen ist mein Dienst sogar einfach: waschen, füttern, spritzen, Nägel schneiden, Wundversorgung. Würde es dabei bleiben, wäre das Leben als Zivi geprägt von dem Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Aber dann brechen wie kalte Duschen immer wieder die Härtefälle über mich herein, die völlige Überforderung.

Es ist heiß. Mein weinroter Golf mit dem „Schwester im Dienst“- Schild quält sich den Abhang zum Bauernhof der Müllers hinunter. In einem riesigen, verdreckten Gehege laufen Hunderte von Truthähnen herum. Ich parke vor dem Hof und hupe. Der schwarze Köter läuft natürlich wieder frei rum. Das kotzt mich an! Der mittlere Sohn des Hofes kommt aus dem Haus und sperrt das kläffende Vieh in den Stall. Ich steige aus. „Oma Müller“ liegt drei Treppen hoch in der Küche aufgebahrt. In der Küche! Ihr Gesicht ist wachsweiß, der Mund nur noch ein verkrustetes Loch. Ihre Arme sind verkrümmt. Nur ihre Haare sind voll und weiß und hängen lang und irgendwie schön über dem Kopfkissen herunter. Sie schreit bei jeder Berührung. Das Gesäß und die linke Rumpfhälfte sind ein einziger faulig stinkender Dekubitus. Der Arzt hat mir erzählt, daß sie so schon vier Jahre hier liegt. Sie stirbt einfach nicht. Für die Müllers gehört „die Oma“ einfach zum Inventar.

Die wild surrenden Fliegen haben schon lange die Herrschaft über den heruntergekommenen Hof an sich gerissen. Über Oma Müller hängt ein Fliegennetz. Das hat Schwester Marion durchgesetzt. Ich bin allein in der Küche. Niemand kümmert sich um mich und Oma Müller. Ich wische ihre Scheiße weg, lege neuen Zellstoff unter die nässenden Wunden und ignoriere ihre jämmerlichen Schreie. Warum darf so jemand nicht endlich sterben? Ich wasche ihr gründlich den Nabel, die Zwischenräume zwischen den Fingern, die Nackenfalte ... in der Nackenfalte bewegt sich etwas. Ich würge. Da sind Maden in ihrem Fleisch unter dem Haaransatz! Ich schreie vor Frust und Wut.

Ich werfe den Waschlappen auf den Fußboden und stampfe zum Telefon. Warum muß eigentlich ich hier den Deppen machen? Warum denn ich, verdammt! Ich bin nur Zivi! Ich will das nicht machen! Ich bin nur zwangsweise hier! Warum bezahlt dieser Scheißstaat denen, die so etwas freiwillig (!) machen, nicht mehr Geld! Schwester Marion und Co. bekommen in meinem Kopf langsam Märtyrerstatus. Die Sprechstundenhilfe nimmt ab. Ich fauche ins Telefon, wer ich bin und wo ich bin, und daß ich sofort den Arzt sprechen will! Mir ist zwar klar, daß Dr. Hermann auch nichts für die Zustände hier kann, aber irgendwo muß ich jetzt einfach meinen Frust abladen! Er verspricht zu kommen. Ich gehe.

Mittwoch. Elf Uhr. Meine Tour reicht noch gut bis 14.30 Uhr: Ich füttere den krebskranken Herrn Wernke, der seinen Brei immer wieder ausspuckt, ich richte seine Tabletten und gebe ihm die Augentropfen. Ich hole die spindeldürre Frau Winkler aus dem Bett, die völlig verkalkt und mit ihrem eigenen Kot beschmiert ist. Sogar im Mund hat sie ihn. Sie lacht fröhlich und brabbelt unverständliches Zeug und hält mich für ihre Schwester Luise. Aber das ist normal: Sie hält alle Leute für ihre Schwester Luise. Zusammen mit ihrer Tochter hebe ich sie in die Badewanne, und wie immer schlägt sie um sich und schreit wie irr, als sie das Wasser auf ihrer Haut spürt.

Donnerstag. Ich rede 20 Minuten mit der depressiven Frau Mader, die wieder weint und von ihrem Mann erzählt, der sie verlassen hat. Und ich versuche sie dazu zu bringen, sich anzuziehen und etwas zu essen, damit sie nicht völlig verlottert und den Lebensmut verliert.

Ich fahre zu Familie Kohl, wo die Frau im Krankenhaus liegt und der arbeitlsose Mann nicht mit dem geistig behinderten Sohn zurechtkommt. Ich übe mit dem Sohn laufen. Den Flur hoch und runter, während er singt. Und dabei lasse ich mir vom Vater erklären, daß ich ein Drückeberger sei, weil ich keinen richtigen Wehrdienst ableiste. So ein Arschloch!

Samstag früh fahre ich zu dem gelähmten Herbert, der heute seinen „Abführtag“ hat. Ich setze ihn auf den Abführstuhl und klopfe auf seinen Bauch, bis der Darm sich entleert. Dann ziehe ich den Gummihandschuh an und „fasse nach“, um auch den letzten Rest rauszuholen. Sonst kriegt Herbert Verstopfung.

Auszüge aus einem Wochenprogramm beim „Mobilen sozialen Hilfsdienst“. Gut, in der Stadt mögen die Zustände etwas weniger dramatisch sein. Aber nicht jeder leistet seinen Ersatzdienst eben in Hamburg-Mitte!

Oma Müller liegt in der Küche. Unterm Fliegennetz

Nach acht Monaten habe ich jedenfalls den Waschlappen geworfen. Die letzten Zivi-Wochen verbrachte ich bei der „Individualbetreuung“: Rund-um-die-Uhr-Pflegedienst bei einem MS-Patienten. Auch nicht schön, aber machbar. Man wirft den Zivis gern vor, sie könnten ja auswählen, in welchem Bereich sie eingesetzt werden wollten. Das mag stimmen. Aber der werdende Zivi weiß vorher nicht, was im Pflegedienst auf ihn zukommt. Er möchte etwas „Nützliches“ tun. Und manchmal macht der Dienst ja auch Spaß. Aber so richtig freiwillig tut ihn fast keiner. Haben pflegebedürftige Menschen nicht eigentlich eine Betreuung durch Menschen verdient, die ihre Arbeit gern und anständig bezahlt verrichten? Hoffentlich werd' ich nie alt!

Alle Namen von der Red. geändert