■ In Deutschland gibt es ein neues Ladenschlußgesetz. Wie wir einkaufen, zeigt, wie unsere Gesellschaft funktioniert
: Kauflust, Kauffrust

Es gibt Szenen des Alltags, in denen sich, als wären es geniale kleine Theaterstücke, all die Widersprüche, all das Schmerz- und Farcenhafte der Art, wie wir leben, in komprimierter Form zeigen. Was beim Kaufen und Verkaufen mit und durch uns passiert, gehört dazu, ebenso wie der Streit um die Regieanweisungen von oben: das, nun veränderte, „Ladenschlußgesetz“. Das ist einerseits ein Meilenstein in der Humanisierung der freien Marktwirtschaft und gehört andererseits auf die Liste der ekligsten Worte der Nachkriegszeit.

Nur scheinbar ist es ein Kompromiß zwischen den verschiedenen Interessen: Einerseits den gehetzten, doppelt belasteten EinkäuferInnen, die zwischen den Schindereien des Jobs und dem ganz normalen Wahnsinn des Privatlebens wenigstens im Flanieren im Supermarkt der kleinen Genüsse und großen Zeichen eine Zäsur schaffen möchten – und den von Plattfüßen, Zugluft und mieser Bezahlung gepeinigten VerkäuferInnen, die doch auch ihr Recht darauf haben, zur rechten Zeit von der Schinderei des Jobs in den normalen Wahnsinn des Privatlebens zu kommen. Nein, das „Ladenschlußgesetz“ ist vor allem Ausdruck der unerlösten, neurotischen Beziehung der beiden Seelen in der Brust von uns allen: Wir sind „Arbeitnehmer“, die wissen, daß sie entweder mehr Arbeit auf sich nehmen, als an Lebensmöglichkeit und Lust dafür zurückgegeben wird, oder die wissen, daß es fast egal ist, was sie machen, es kommt doch immer eine Hundsgemeinheit gegen die Natur, gegen die Mitmenschen, gegen das Leben heraus. Je weniger sinnvolle Arbeit es gibt, desto mehr wird sie zum mehr oder weniger nationalen Heiligtum. So steht dem Arbeitnehmer Dr. Jekyll Mr. Hyde als Käufer entgegen. Als Käufer wollen wir für unsere Arbeit belohnt werden, und einer der prekärsten Momente des Konsumierens ist dieser durchaus erregende Moment der „Kaufentscheidung“, in dem das ganze System sich wenigstens für den Augenblick einmal als richtig sexy erweisen soll. Einkaufen ist Sex mit dem Menschen, den der Arbeitnehmer sehr, sehr lieb hat, nämlich mit sich selbst als Konsumenten.

Als Konsument und Käufer bin ich ein „Kunde“ – schon wieder so ein ekliges Wort. Erinnert an kasernierte Prostitution. Dabei hätte ich doch nur gern drei frische Tomaten, etwas eingelegten Ziegenkäse und eine Handvoll Oliven, die ich mir zu einer Mixtur mit dem glücklich klingenden Namen „griechischer Bauernsalat“ zusammenstellen möchte, als Begleitung zu dem schönen alten Western im dritten Programm heute abend.

„Der Kunde hat immer recht!“, sagt die amerikanische Philosophie. Die macht das Kaufen einerseits ziemlich erfreulich, hat aber auch ihre eigene Grausamkeit. Bin ich kein Kunde, weil ich nichts kaufen kann zum Beispiel, so habe ich automatisch unrecht. Der Sinn meiner Arbeit möge also darin liegen, daß ich beim Einkaufen genau die beiden Formen von Zuwendung bekomme, die mir mein gottverdammter Chef und meine gottverdammten Mitarbeiter in der Regel ebenso verweigern wie mein Ehepartner und meine Kinder: Liebe und Respekt. Andererseits ahnt man, daß die Dinge, die man kauft, nie so viel Glück erzeugen können, wie man an Unglück als Arbeitnehmer ansammelt. Was vielleicht die seltsame Gier von Menschen erklärt, immer mehr Geld zu verdienen, obschon sie viel mehr haben als sie brauchen, um alle ihre Wünsche zu erfüllen.

Wenn Deutsche verreisen, sind sie meist von der fremden Art des Kaufens begeistert. Das Einkaufen dort ist um so schöner, je „natürlicher“ (also: je unterentwickelter) das entsprechende Land ist. Paradiesische und zugleich barbarische Zustände scheinen dort zu herrschen, wo man einfach immer einkaufen kann, und wo sich die VerkäuferInnen stets mit derselben Begeisterung ihrem Geschäft widmen. Die Welt soll ein Einkaufsparadies sein; zu Hause wollen wir solche Zustände indes nicht.

Daß es zu Hause anders zugeht, hat durchaus etwas mit dem Christentum zu tun. Jene Religion, die den Kapitalismus erst zur Blüte brachte, entwickelte eine lustfeindliche Haltung gegenüber dem Verkaufen: je protestantischer, desto mehr. Wir sind erst richtig zufrieden, wenn Einkaufen eine Strafe ist. Die Würde der Produktion und die Würde des Verbrauchs sollte nicht durch die unreine Beziehung des Kaufes gefährdet werden. Weshalb hierzulande der Fabrikherr verehrt wurde, der „Händler“ verachtet. Der christliche Kapitalist will vom Verkaufsakt nichts wissen.

Kurzum: Die Regelung dieses ursprünglich sinnlichsten Aktes angewandten Kapitalismus sagt etwas über die innere Verfaßtheit einer Gesellchaft. So geht es beim Ladenschlußgesetz um eine Strukturierung des gesellschaftlichen Alltags. Wenn die Läden geschlossen haben, ist der anständige Mensch zu Hause. Die Welt des Tages und die Welt der Nacht, was öffentlich und was privat ist, ist mit dem Verriegeln der Ladentüren definiert. Wer in Deutschland einen späten Appetit auf Salami bekommt, an eine gerade sich schließende Ladentür gelangt – der nimmt manchmal auch noch eine triumphalistische Bemerkung eines Passanten mit auf den hungrigen Heimweg: „Ja, da hätten Sie eben früher kommen müssen.“ Fehlgeschlagene Versuche von Kaufen und Verkaufen gehören hierzulande sowieso zu den Dingen, die die meiste Schadenfreude auslösen.

So wollen wir, um unserer inneren Ordnung und unseres Seelenheiles willen, Kaufen unbedingt auf die Seite von Pflicht und Ordnung, fort von Lust und Chaos bringen. Käufer und Verkäufer, so scheint's, wollen vermeiden, miteinander zu flirten. Die kulturelle Minderwertigkeit des Aktes von Kaufen in der deutschen Gesellschaft schlägt sich darin nieder, daß KäuferInnen und VerkäuferInnen sich gegenseitig hassen, zumindest aber tief mißtrauen. (Da könnten wir ihnen Geschichten erzählen.)

Der Streit um den Ladenschluß war schließlich auch so heftig, weil es um Symbole ging: Vorschein der kommenden Dienstleistungsgesellschaft, die wir uns kaum anders denn als moderne Skalvenhaltergesellschaft vorstellen können. Denn das Wirtschaftswunder ist vorbei, für den „Standort Deutschland“ werden unbarmherzig menschliche Rücksichtnahmen hintangestellt. Was aber, wenn selbst mit größter Gründlichkeit im Sozialabbau der Umbau der freien Marktwirtschaft hierzulande von einer produzierenden in eine dienstleistende Menschenmaschine nicht gelingt? Wir ahnen, daß Ladenschlußzeiten etwas mit ökonomischen Weltkriegen zu tun haben können. Georg Seeßlen