■ Ökolumne
: Ökoschnuller Von Manfred Kriener

Vor zwei Jahren war das noch ein netter Jokus. Bei der Durchsetzung der internationalen Nordsee-Beschlüsse, witzelte der WWF, gebe es noch „viele schwarze Flecken“. Die gibt es jetzt nicht mehr nur auf dem Papier, sondern auch draußen im Watt in schauriger Realität. Zwischen dem Festland und den ostfriesischen Inseln Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge verfault jene Landschaft, die von hilflosen Naturschützern wegen der Einmaligkeit des Lebensraums nur noch mit dem tropischen Regenwald verglichen wird. Überall schwarze Flecken: Etwa ein Sechstel der Wattfläche ist abgestorben, das Leben der mehr als 4.000 verschiedenen Arten erstickt.

Nach eiligen Vorortvisiten einschlägiger Politiker, die mit kleinen Schäufelchen betreten im toten Schlick buddelten, wird jetzt zur Ursachenforschung geblasen. War's der lausig kalte Winter oder die aus dem Pazifik eingewanderte Giftalge? Oder doch der Russen-Tanker, der ranziges Speiseöl verloren hat? Sind die Autos schuld mit ihrem Stickoxidausstoß oder die Bauern mit ihrer Gülleschwemme? Sind's die 30 Millionen Nordsee- Anrainer, die ihre Scheiße noch immer ungeklärt dem blanken Hans übergeben, oder die 31 Millionen Übernachtungen, die die Tourismusbranche im vergangenen Jahr zwischen Cuxhaven und Emden zählte?

Das „oder“ ist symptomatisch für die Weigerung, die Kalamität im ganzen zu sehen. Nicht das „oder“, sondern das „und“ macht das Watt zum Massengrab. Alle Ursachen zusammen haben Nordsee und Watt in einen extrem vorbelasteten Dauerpatienten verwandelt. 36 Gifte stehen auf der Liste von Problemstoffen, die bis 1995 – so die internationale Übereinkunft – um die Hälfte hätten reduziert werden sollen. Hätten, werden, sollen! Können tun wir aber nicht.

Natürlich gibt es Erfolge: Vorbei sind die Zeiten, als die Chemieindustrie das Auskippen von Extremgiften auf hoher See noch „Verklappen“ nannte und die Horrormischung verbal zur „Dünnsäure“ verschlankt wurde. Vorbei die als kleines Lagerfeuer deklarierte Verbrennung von Dioxinen und anderem Teufelszeug per Entsorgungsschiff. Da war Greenpeace außen vor. Auch der Phosphateintrag ist stark zurückgegangen, seit die Umweltkugel im Vollwaschgang gurgelt. Doch andere Gifte haben wieder zugelegt. „Wenn ich von der Haubitze getroffen werde, nützt es mir nichts, daß bei den Neun-Millimeter-Patronen prima abgerüstet wurde“, sagt Wattschützer Manfred Knake. Und der Mann hat irgendwie recht.

Durch die stofflichen Verschiebungen in der Pandorabüchse kann es zu paradoxen Reaktionen kommen. Der Rückgang des Phosphats und die leichte Zunahme der Stickstoffe verändern das Ökosystem und begünstigen je nach Schadstoffmix bestimmte Algentypen. Vielleicht ist dies der Grund, daß ständig neue, andere „Killeralgen“ in ihrem Wachstum explodieren. Die Nordsee als experimenteller Chemiebaukasten.

Nach Algenpest, Robbensterben und den Blumenkohlgeschwüren der Fische jetzt also die schwarzen Flecken. Daß sie ausgerechnet in einem formal geschützten Biotop auftreten, sagt viel über die Effizienz des Naturschutzes. National wie international sind der „Nationalpark“ und das „Weltnaturerbe Wattenmeer“ in klangvolle Schutzkategorien eingestuft worden. Doch die schönsten Etiketten ersetzen keine wirksame Umweltpolitik. Sie verkommen zum Ökoschnuller, wenn sonst nichts passiert.

Passieren könnte dann etwas, wenn die Wirtschaft Druck macht, in diesem Fall die Fremdenverkehrsbranche. Wenn die Tourismusmanager in die Hufe kommen, könnte eine wahrhaft furchterregende Koalition aus Vogelschützern, Fischern, Nordsee-Urlaubern und Kurdirektoren den Ringelwürmern und Einsiedlerkrebsen beispringen und die Landschaftsleiche Watt verhindern. Bisher regiert in der Bettenzunft noch die Verdrängung: „Unsere Touristen reagieren nicht auf Horrornachrichten“, funken die Kurdirektoren aus ihren friesischen Bunkern. Ob sie das immer noch sagen, wenn sich die stinkenden Schwefelwasserstoff-Wolken aus dem faulenden Watt über ihre „Scholle im Speckmantel“ legen?