Die Tränen in seinen Augen

Hiddink-Kritiker Clarence Seedorf machte im EM-Viertelfinale gegen Frankreich alles: er verschoß auch den entscheidenden Elfmeter  ■ Aus Liverpool Peter Unfried

Für einmal war es nicht der „Kop“. Der gegenüberliegende „Anfield Road Stand“ tat es. Das war jener Teil der Tribüne, der voll war mit Holländern. Laurent Blanc hatte den entscheidenden Strafstoß für Frankreichs Fußballer verwandelt. Und nun saßen die Holländer als Verlierer da und sangen voller Inbrunst, was man in Liverpool singen muß: „You'll never walk alone.“

Und was soll man sagen? Es stimmte irgendwie. Es war Christian Karembeu, für die französische rechte Seite zuständig, der, ohne einen Umweg zu machen, zu Clarence Seedorf gerannt kam, den Niederländer nahm und ihn vom Platz führte. „Da waren nur wir zwei auf dem Platz“, sagte er später, „und sonst niemand.“

Schön. Nun: Das Drama braucht, um funktionieren zu können, die Überhöhung eines Einzelschicksals. Der Keeper Lama, der den Ball gehalten hatte, war bloß irgendein Held. Ein geradezu hamletesker melancholy man aber war ganz eindeutig Seedorf. Und Karembeus Geste gab die Schlußszene ab, die dem Zuschauer noch jenen halb ergriffenen, halb versöhnenden Extraseufzer entlockte.

Daß die Niederländer heute schon wieder in Amsterdam sitzen und Seedorf den entscheidenden Elfmeter verschossen hat, paßt irgendwie. Es war ein Spiel gewesen, in dem sich beide Teams aus Furcht vor dem Ausscheiden hauptsächlich belauert und neutralisiert hatten. „Man weiß alles voneinander“, nannte Guus Hiddink das, „und kann den anderen kaum überraschen.“ Es war so, daß Frankreich taktisch wie immer spielte, prima organisiert, aber sein Spiel sehr viel vorsichtiger interpretierte: Der ballführende Angreifer stand meist allein. Bondscoach Hiddink aber hatte sich vom holländischen Fußball verabschiedet. Mit Manndecker de Kock stand man hinten lange Zeit zu viert, dafür war die Position des Spielmachers vor der Abwehr überhaupt nicht mehr besetzt.

Nun ist das nicht zufällig die Stelle, die Edgar Davids aufzufüllen pflegte und von der aus er zusammen mit Seedorf die Strategien des Spiels entwickelte. Davids stand nicht mehr zur Verfügung, nachdem er Hiddink der Bevorzugung bezichtigt hatte („er hat seinen Kopf zu tief im Arsch von manchen Spielern“). Es ist auch heute noch nicht ausdiskutiert, ob es sich um die üblichen Eifersüchteleien in einem Fußballteam handelt, einen Generations- oder womöglich doch um einen Rassenkonflikt. Die Weißen gegen die „Surinam-Fraktion“ um Davids und Seedorf?

Stürmer Patrick Kluivert, der ein Freund von Davids ist, hat immer wieder behauptet, es gebe in dem Team, das hauptsächlich aus jetzigen oder früheren Ajax-Spielern besteht, „keine Gräben“. Dafür gab es Krisensitzungen und, wie Dennis Bergkamp zugestanden hatte, „Probleme“.

Zu erkennen war, daß Hiddink auf bestimmte Spieler besonders baute, die zufällig alle weiß sein mögen und die sicher nicht in Bestform waren. Es handelt sich um den Kapitän Danny Blind, um Ronald de Boer, um Bergkamp und insbesondere den letzlich bis auf sein Tor gegen die Schweiz unscheinbaren Jordi Cruyff.

Wahr ist auch, daß Clarence Seedorf der einzige war, der offen gegen den angeblich protegierten Cruyff-Sohn stichelte, der Davids verbal beigesprungen war und sich zudem gegen Hiddinks taktische Sicherheitsmaßnahmen wehrte. Der Mann hat Selbstbewußtsein. Geboren wurde erin Paramaribo, Surinam, in der Fußballschule von Ajax wurde er groß. Mit 19 ging er zu Sampdoria Genua. Jetzt ist er 20 und findet sich bei Real Madrid ein.

Man kann vermuten, daß sich die, vorsichtig formuliert, Diskussionen nicht positiv auf das holländische Spiel ausgewirkt haben. Einmal, heißt es, sei es den Holländern gelungen, Streitereien bereits vor einem Turnier zu beenden. Das war 1988, da wurde man Europameister. Danach gelang es nicht mehr – Erfolge blieben aus. Insofern wäre in England alles wie gehabt gewesen.

Auch Hiddink wollte Seedorf später „getröstet“ haben. Es hatte 60 Minuten gedauert, bis er ihn auf den Platz gelassen hatte. Während Kollege Jacquet mit seinen Wechseln stets nur Personal austauschte, änderte sich mit Seedorfs Eintritt auch die holländische Taktik. Er hing weiter zurück als Bergkamp und übernahm die Konstruktion des Spiels.

Seedorf wollte alles machen. Er übernahm die Einwürfe, Ecken, und als nach einer Verletzungspause der Ball zu den Franzosen zurückmußte, übernahm er das auch. Und was den Elfer betraf: „Keiner wollte“, sagte Seedorf, „aber einer mußte schießen.“

Es hätte nicht soweit kommen müssen. Nach 80 Minuten wurde Desaillys Handspiel aus dem Strafraum verlegt. Und zwei Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit war endlich ein kreativer Moment da. Mulder hatte gepaßt, und nun rannte ein Holländer allein auf Lama zu. Es war Seedorf, der den französischen Keeper anschoß.

Die Franzosen hatten zwar durch Djorkaeff (104.) eine Chance, die ebenbürtig zu der Seedorfs war; doch wirkte das, was Trainer Jacquet als Rationalität verkaufen will, auch etwas wie Verklemmtheit. „Das lag auch am Gegner“, sagte Kapitän Deschamps, „die Holländer waren stärker als die bisherigen.“ Erstmals war aber deutlich zu merken, daß dem Team ein richtiger Strafraumstürmer abgeht; daß Christophe Dugarry mit gerissenen Bändern im Knie aus dem Turnier ist, kommt erschwerend hinzu. Ganz zu schweigen von Karembeu, der wegen zweiter gelber Karte im Halbfinale fehlen wird.

Das wird auch Seedorf. Die beiden sind bei Sampdoria Genua Freunde geworden, heißt es. Und sie hielten sich noch immer innig, als sie später durch die Mixed Zone gingen.

„Clarence wird darüber hinwegkommen“, sagte Kerembeu.

„Es war eine große sportliche Geste“, antwortete Seedorf, „aber ich konnte es gar nicht sehen, wegen der Tränen in meinen Augen.“

Ooooh, ist das ein Wort? Wenn es in diesen Tagen in Amsterdam unfeine Sachen zu sagen geben sollte, möge man innehalten, und sich dieses schönen Satzes erinnern.

Niederlande: van der Sar - Reiziger, de Kock, Blind, Bogarde - Ronald de Boer, Bergkamp (60. Seedorf), Witschge (80. Mulder) - Cruyff (69. Winter), Kluivert, Cocu

Zuschauer: 37.465, Elfmeters.: 0:1 de Kock, 1:1 Zidane, 1:2 Ronald de Boer, 2:2 Djorkaeff, 2:3 Kluivert, 3:3 Lizarazu, Lama hält gegen Seedorf, 4:3 Guerin, 4:4 Blind, 5:4 Blanc

Frankreich: Lama - Thuram, Blanc, Desailly, Lizarazu - Karembeu, Deschamps, Guerin - Zidane, Djorkaeff - Loko (62. Dugarry - 80. Pedros)