Die jüdischen Spuren sind verwischt

In Rumänien erinnert kaum noch etwas an die einstige Blüte jüdischen Lebens. Und die wenigen jungen Mitglieder der Gemeinde wollen aus Angst vor wachsendem Antisemitismus ausreisen  ■ Aus Bukarest Keno Verseck

Ach, ihr Jungen versteht das nicht mehr“, sagt Lya Benjamin. Einen Augenblick lang schaut sie gedankenverloren aus dem Fenster. Ihre Wohnung liegt im ehemaligen jüdischen Viertel von Bukarest, in einem der letzten alten Häuser, die hier noch stehen. Der Blick aus dem Fenster ist der Blick auf ein riesiges Abrißfeld. Als in den achtziger Jahren die Bukarester Altstadt dem Erdboden gleichgemacht wurde, damit der Diktator Ceaușescu seinen kilometerlangen Siegesboulevard und seinen Palast, das größte Gebäude Europas, errichten lassen konnte, überrollten die Bulldozer als erstes das jüdische Viertel. Hier, in der Iuliu-Barasch-Straße, benannt nach dem bekannten Bukarester jüdischen Arzt und Wohltäter, ist seitdem alles so geblieben, vollendet-unvollendet. Ein paar baufällige Häuser inmitten eines weiten Feldes von Schutt und Unrat, ein riesiges Loch im Herzen der Stadt. „Nein, ihr Jungen könnt das nicht mehr verstehen“, sagt Lya Benjamin. Und dann erzählt sie doch.

Lya Benjamin stammt aus einem wohlhabenden siebenbürgisch-jüdischen Elternhaus. Mit neun Jahren, 1940, darf sie nicht mehr zur Schule gehen. Der Großvater lehrt sie Geschichte, die Mutter Französisch, Englisch und Deutsch. Ein Jahr später wird die Familie aus dem Ort Tîrnăveni deportiert und wartet in der Kreisstadt Blaj, wie alle Juden aus der Umgegend, auf die weitere Deportation nach Transnistrien. „Nachts konnte ich nie schlafen und hörte immer die Gespräche meiner Eltern. Einmal sagte meine Mutter zu meinem Vater: ,Wenn wir nach Transnistrien deportiert werden, dann bringe ich mich und Lya um, du aber sollst am Leben bleiben.‘ Seitdem hatte ich immer Angst, morgens nicht mehr am Leben zu sein.“ Nach drei Monaten darf die Familie doch nach Hause zurückkehren. Vielleicht weil im August 1941 ausgerechnet die deutsche Regierung Rumänien gewarnt hatte, bei der Judendeportation nicht überstürzt, sondern planmäßiger vorzugehen, um „negative Auswirkungen“ der „Rumänisierung“ auf die Volkswirtschaft zu vermeiden? Jedenfalls überlebt die Familie. „Ich weiß nicht, ob mich all das zu einer Kommunistin gemacht hat“, sagt Lya Benjamin, „aber ich wurde eine große Kommunistin, voller Ideale über eine bessere Zukunft der Menschen.“

Nach dem Krieg studiert sie Geschichte. „Ich lehrte Marxismus- Leninismus. Aber schon bald überzeugte es mich nicht mehr, was ich meinen Schülern erzählte. So kam ich nach Bukarest an das Institut für Parteigeschichte und arbeitete da, bis ich 1986 in Rente ging. Ich war keine Heldin, die Gefängnis riskiert hätte. Ich wollte auch nicht emigrieren. Ich lebte in der Welt der Bücher. Das hat mich hiergehalten.“

Nun, mit 64 Jahren, holt Lya Benjamin all das nach, was früher nicht möglich war. Sie schreibt Artikel und Studien über die Geschichte der Juden in Rumänien, gibt historische Dokumentationen heraus und hat sich für ihre Doktorarbeit angemeldet, die sie über die Antonescu-Diktatur schreiben will. Sie will herausfinden, ob die Verlegung der rumänischen Juden in die Kreisstädte, so wie es auch mit ihrer Familie geschah, der Anfang eines großen Deportationsplanes war. Sie ist voller Elan. Und sie sagt, als hätte keines ihrer Vorhaben einen Sinn: „Das Leben ist müde. Es gibt hier kaum mehr Juden. Nur der Antisemitismus ist schon wieder so groß.“

Einst war Bukarest eines der Zentren der südosteuropäischen Juden. Um die Jahrhundertwende verzeichnet Baedekers Reiseführer „50.000 Israeliten“ in Bukarest, in der Zwischenkriegszeit waren es 80.000 bis 100.000. Sie entwickelten das Finanzwesen in der rumänischen Metropole mit, trugen entscheidend zur Industrialisierung der Stadt bei und prägten ihr religiöses und kulturelles Leben. Heute sind die Spuren jüdischen Lebens verwischt. Kein Reiseführer erwähnt sie. Im zweibändigen historischen Werk „Aus dem Bukarest von gestern“ und anderen Werken zur Stadtgeschichte ist von Juden nicht die Rede.

Nur ein Ort in Bukarest erinnert an die Geschichte der Juden in der Stadt: das jüdische Museum in der Mamularistraße. Es ist mittwochs und sonntags ein paar Stunden geöffnet. Aber es kommen kaum Besucher. Die ältere Dame, die hier arbeitet, hat meistens Zeit zum Lesen. Das Museum ist eine alte Synagoge, eine von noch vier in Bukarest. Manche der Ausstellungsstücke, Thorarollen und andere Kultgegenstände, sind jahrhundertealt. Alte Fotografien zeigen jüdische Geschäfte in Bukarest und Synagogen, von denen es einst sechzig in der Stadt gab; Abraham Goldfaden, den Vater des ersten jiddischen Theaters der Welt; kubistische Wohnblocks und Villen, die der Architekt Marcel Iancu in Bukarest baute. Urkunden bezeugen den „heldenhaften Kampf“ jüdischer Soldaten in der rumänischen Armee im Ersten Weltkrieg. Es hat ihnen nichts geholfen. Am Ende wurden sie doch in die „Judenklasse“ eingestuft und verloren ihre Staatsbürgerschaft.

In einer Vitrine liegt eine Ausgabe von Mihail Sebastians Roman „Seit zweitausend Jahren“, dem Buch, das 1934 die größte antisemitische Hetzkampagne der rumänischen Literaturgeschichte auslöste, weil der Autor sich darin als einen bewußt-selbstbewußten Juden beschreibt, der sich ausdrücklich auch mit seiner rumänischen Heimat und ihrer Kultur identifiziert. Es sollte nicht sein. Die schwarze Liste der „auf immer“ verbotenen Literatur, die nun im Museum ausgestellt ist und die in den vierziger Jahren in Bukarester Buchhandlungen und Bibliotheken aushing, verzeichnet auch Sebastians Namen.

Andere Plakate tragen in deutsch mit rumänischer Übersetzung Aufschriften wie „Judenarzt“ oder „Judengeschäft“. Fotografien erinnern an das Pogrom im Januar 1941, als Rumäniens christlich-mystische Faschisten Juden im Bukarester Schlachthof an Fleischerhaken aufhängten und dazu religiöse Lieder sangen. In der Mitte des Raumes verläuft zwischen zwei langen Vitrinen ein Gang. Zu einer schwarzverhüllten Gestalt am Ende des Ganges führen Fußspuren, die zwei Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz hinterlassen haben.

Von fast 800.000 Juden wurden während der Antonescu-Diktatur mehr als 200.000 in Rumänien ermordet und 135.000 aus dem von Ungarn besetzten Nordsiebenbürgen nach Auschwitz deportiert. Die Überlebenden emigrierten nach Israel, gleich nach dem Krieg und später vor allem, als der Dikator Ceaușescu einen immer extremeren nationalistischen Wahn verbreitete. Heute leben noch 8.000 Juden in Bukarest, 5.000 im Rest des Landes. Jean Ancel, Historiker am Jad-Vashem-Institut, der sein Geburtsland nach 1989 wieder besucht hat, sagt: „Die jüdische Gemeinschaft Rumäniens befindet sich an ihrem Ende. Mit meiner Generation ist die jüdische Existenz auf rumänischem Boden abgeschlossen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, Bilanz zu ziehen.“

Die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind älter als 60 Jahre. Viele kommen jeden Tag zum Gemeindezentrum in die Sfînta-Vineri-Straße, wo die einzig noch als solche genutzte Synagoge steht. Unter der Antonescu-Diktatur befand sich hier der Sammelplatz, an dem Bukarester Juden ihr Privateigentum dem Staat abtreten mußten. Heute werden hier 600 Alte täglich mit Essen versorgt. Es gibt noch eine weitere koschere Kantine und zwei Altersheime. Die Gemeinde läßt Bücher auf Kassetten sprechen. „Die meisten Bukarester Juden haben große Bibliotheken“, sagt Gemeindedirektor Alex Sivan. „Für viele ist es schlimm, wenn sie nicht mehr lesen können. So nehmen wir nun Buch um Buch auf.“

Die Alten sprechen nicht gern über die Vergangenheit und auch nicht über die Gegenwart, in der Propaganda antisemitischer Parteien mehr und mehr Verbreitung findet, in Zeitungen Artikel über „jüdische Kinderschmuggler“ zu lesen sind und über die „israelischen Arbeitslager“, in denen „rumänische Gastarbeiter ausgebeutet“ werden. Die Alten weisen Besucher höflich ab: Die jüdische Gemeinde wünsche ihren Frieden.

Die wenigen jungen Leute aus der jüdischen Gemeinde sind gesprächsbereiter. Sie treffen sich jeden Freitag nach dem Gebet zum Abendessen und zum Thora- und Talmudunterricht. Sie alle wollen Rumänien verlassen, sowohl wegen der Schwierigkeit, als Jude in Rumänien zu leben, als auch wegen der katastrophalen Wirtschaftslage.

Eine vielleicht sechzehnjährige Schülerin erzählt: „Ich hatte eine Lehrerin, die Juden nicht ausstehen konnte und vor der Klasse antisemitische Reden hielt. Ich schwieg nur immer dazu. Trotzdem bekam ich jedesmal die schwersten Aufgaben. Dann kam ich an eine andere Schule, da passierte das nicht mehr. Aber ich würde sowieso nichts sagen, denn es bringt nur Unannehmlichkeiten. Und ich gehe sowieso nach Israel. Da bleibe ich zehn Jahre, und dann will ich nach Amerika, Geld verdienen und leben. Denn es ist ja so: Hier sind wir die Judenkaffer und in Israel die Rumänen.“

„Ach, diese schönen jungen Leute!“ ruft Lya Benjamin aus und schaut wieder aus dem Fenster. Dann erzählt sie: „Als das Purimfest war, sah ich so viele wunderschöne Jungen und Mädchen, groß gewachsen und mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Da kam mir plötzlich in den Sinn: Wären sie vor fünfzig Jahren geboren, würden sie nicht mehr am Leben sein. Sie wären in die Gaskammern gekommen. Es war wie ein Schmerz in meiner Brust. Ich habe versucht, nicht so auszusehen, als sei ich eine verrückte Alte.“

Dann spricht sie über ihre Historikerkollegen in Rumänien. Die sehen sie nicht als verrückte Alte, aber als eine Alte, die übertreibt und wegen ihrer Abstammung befangen ist. Lya Benjamin wird als Historikerin in Rumänien ignoriert, obwohl sie sich seit mehr als zwanzig Jahren mit jüdischer Geschichte in Rumänien beschäftigt. Selten bespricht eine rumänische Zeitung die Bücher, die sie herausgibt, selten wird sie zu Diskussionen eingeladen. Sie paßt nicht in den Konsens ihrer meisten Kollegen, die das Antonescu-Regime rehabilitieren oder seine Geschichte nicht wahrhaben wollen. „Auschwitz, die Gaskammern“, sagt sie, „das ist jetzt schon eine Banalität. Rumänische Historiker nehmen nicht zur Kenntnis, was geschehen ist. Es ist doch erschütternd, wie Menschen dazu kommen, einen solchen Mord zu begehen, nicht wahr? Aber ich glaube, die Menschen lernen nicht aus der Geschichte.“