■ Amtsgericht
: Mehr Menschlichkeit wagen

Mario R. hat die Beförderungsrichtlinien der BVG verinnerlicht. Als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes IHS kontrolliert er zusammen mit zwei Kollegen im Mai 1994 in der U 2 die Fahrausweise und fand bei Frau N. zwar ein gültiges Monatsticket, der dazugehörige Azubi-Grundschein war jedoch längst abgelaufen. Da Frau N. ihr Fahrrad dabei hatte, stellte R. ihr einen Zahlschein über ein erhöhtes Beförderungsentgelt in Höhe von 120 Mark aus, zog den Grundschein ein und nahm die Personalien auf. Für die Weiterfahrt sollte Frau N. am Automat ein Ticket für sich und ihr Fahrrad lösen. Als der Kontrolltrupp Frau N. gleich in der nächsten Bahn erspähte, steuerte er zielsicher auf sie zu und erwischte sie erneut ohne Fahrschein. Die Frau reagierte wenig erbaut auf die Aufforderung, die Bahn zu verlassen und wollte sich dann wegen dringender Termine per Fahrrad von dannen machen. Dieses Vorhaben vereitelte Mario R., indem er, wie er sagt, nur den Lenker festhielt, oder nach Aussage der Frau auch ihr Handgelenk packte. Die überführte „Beförderungserschleicherin“ sollte das Eintreffen der Polizei abwarten, was sie dann auch wortlos tat.

So ganz versteht der schmächtige Mario R. nicht, warum er und seine Kollegen nun als Angeklagte vor Gericht sitzen. Es scheint ihn heute noch zu brüskieren, daß Susanne N. damals schon seine Handlungsweise bei der ersten Kontrolle „ziemlich lautstark“ als „unkorrekt“ bezeichnet habe. Er kann sich auch nicht an einen von ihr ins Feld geführten gültigen Studentenausweis erinnern, denn sonst hätte sie ja „gemäß Paragraph acht der Beförderungsbestimmungen“ ihr Azubi- Ticket verlängern lassen und in der BVG-Hauptverwaltung vorweisen können. Dann wären statt der 120 nur 10 Mark Bearbeitungsgebühr erhoben worden. Bei der zweiten Kontrolle habe sie dann rumgebrüllt und das Fahrrad über seinen Fuß geschoben. Da habe er kurzfristig den Lenker festgehalten, sonst nichts.

Die beiden Mitangeklagten, Hans-Jürgen M. und Hardy R., beschreiben unisono den „hsterischen Auftritt“ der Frau N. – und außerdem: So korrekt wie ihr Kollege R. verrichte niemand seinen Dienst. Warum aber Frau N. am Weggehen gehindert wurde, obwohl ihre Personalien bekannt waren, kann keiner so recht erklären.

Susanne N. scheint bemüht, die Aussage der drei Sicherheitswächter in Zweifel zu ziehen. Sie schwebt im Blümchenkleid herein, streicht sachte die langen Locken zurück und spricht sehr leise. Sie habe sich mit ihrem gültigen Monatsticket im Recht gefühlt und R. sehr wohl den Studentenausweis gezeigt, den dieser aber ignoriert habe. Im nächsten Zug seien die drei dann auf sie zugekommen, als hätten sie sie nie vorher gesehen. Geschrien habe sie erst, als R. sie festhielt. Und niemals würde sie sich zu rohen Gewalttaten herablassen und anderen Leuten über die Füße fahren.

Die Richterin unterbricht leicht gereizt die Verhandlung. Wenige Minuten später erklärt sie das Verfahren für eingestellt, nicht ohne sich ein wenig Luft zu machen: „Das scheint mir so ein typischer Fall zu sein, wo sich Kleinigkeiten so hochschaukeln, daß die Polizei völlig unnötig beschäftigt wird. Da haben wir einen sehr korrekten – oder besser überkorrekten – Kontrolleur und einen Fahrgast, der formell sicher nicht im Recht war, materiell aber schon. Ich würde mir wünschen, daß die BVG-Bediensteten ein bißchen menschlicher handeln und ihre Spielräume ausnützen würden. Sie sind nicht dazu da, zur Ordnung zu rufen. Sie dürfen niemanden festhalten, wenn die Personalien schon aufgenommen sind.“ Annette Fink

wird fortgesetzt