Schriften zu Zeitschriften
: Wortkühe melken

■ Die Literaturzeitschrift „Schreibheft“

Das Format ist ein wenig größer als die Schreibhefte, die früher in dem gleichen Mattschwarz auf dem Tisch lagen, um im Unterricht oder nach dem Mittagessen zu Hause mit Schönschrift gefüllt zu werden. Ziel der Schreibübungen in diesen eng linierten Zeilen war die Domestikation einer im Spiel sich lösenden kindlichen Seele. Über die nostalgische Materialität hinaus verbindet sich das Schreibheft, das Hermann Wallmann und Norbert Wehr jetzt bereits zum 47. Mal erscheinen lassen, mit diesen Erinnerungen in dem Antrieb, jeglichen Exerzitien der Konventionalität etwas entgegenzusetzen.

Die Form des Schreibhefts geht statt auf Wendungen auf eine langsam schälende Zuspitzung zurück. Einen gravierenden Einschnitt hat es jedoch gegeben, bevor diese Entwicklung ansetzen konnte. Während das Schreibheft zuvor als interessant, aber ohne Profil wahrgenommen werden konnte, beginnt 1983 mit Nummer 22 ein Konzept Gestalt anzunehmen, das die üblichen Themenschwerpunkte in ein Netz aus feinen Bezugsfäden knüpft, die das Heft bei der Lektüre als einen Text erscheinen lassen.

Einzelautoren, Gruppen wie die französisch-amerikanische Oulipo oder die Moskauer Konzeptualisten, aber auch heterogene Strömungen wie die amerikanische Postmoderne werden in Dossiers vorgestellt. Seine Zuspitzung erlebt dies Konzept, wenn Fäden nicht nur innerhalb der Heftgrenzen verlaufen, sondern die regelmäßige Lektüre das Gemisch aus Überraschungen und Wiederanknüpfungen zu einem Konzept der Literatur der Moderne führt.

Ein Faden, der direkt oder indirekt die Lektüre des Schreibhefts der letzten Jahre durchzieht, könnte – stellvertretend für einige weitere damit in Verbindung stehende – mit dem Namen Reinhard Priessnitz identifiziert werden. Wie das im aktuellen Heft ausgefächerte Dossier über ihn noch einmal eindrucksvoll belegt, bündeln sich in der Figur des 1985 verstorbenen Wiener Schriftstellers wesentliche Eigenschaften der experimentellen österreichischen Literatur der letzten 50 Jahre. Daß damit nicht der Sargdeckel der Literaturgeschichte auf Priessnitz fällt, zeigt das Schreibheft an der produktiven Auseinandersetzung gegenwärtiger, ihrem Verständnis nach sehr verschiedener Dichter. Das Dossierverfahren bringt nun nicht nur einige unveröffentlichte Texte des Autors, sondern läßt auch Raum für ein Gespräch, einen Essay über Priessnitz. Es zeigt, wie Priessnitz' Stimme in den Dichtungen anderer Autoren wie Ferdinand Schmatz, Anselm Glück oder Franz Josef Czernin, der wiederum den Essay verfaßt hat, nachhallt, produktiv wird, bis hin zu einer durch Bachmann- Preisträger Franzobel repräsentierten jüngeren Generation.

Die Komposition der Texte ergibt einen weiteren (indirekten) Beitrag zu der im deutschen Literaturbetrieb der letzten Jahre ungewöhnlichen und einmalig qualitätvollen Lyrikdebatte, die in Schreibheft Nr. 45 mit einem Aufsatz von Czernin über den Dichterkollegen Durs Grünbein begonnen, im folgenden Heft mit einer Replik von Grünbein und einem Beitrag des Kritikers Michael Braun fortgeführt wurde.

Das kurze Leben Jan Jacob Slauerhoffs, seine Gedichte und Romane, wie sie die neue Ausgabe vorstellt, stehen für eine weitere, nicht weniger wichtige Facette des Schreibhefts. Der in Deutschland bislang nahezu unbekannte Schriftsteller und Schiffsarzt wird endlich auch hier in den Kanon der Moderne gerückt, eine weitere Funktion dieser Zeitschrift, die Literatur als Landkarte mit Autormarkierungen, Lektürewegen und weißen Flecken beschreibt.

Ohne sich dessen zu rühmen, ist das Schreibheft seiner Zeit, das heißt der Aufmerksamkeit für Literatur, wie sie auflagenstarke Verlage produzieren, voraus. Das ist für ein solches Projekt überlebensnotwendig. Gerade indem es Schwerpunkte setzt und diese teilweise eng miteinander verknüpft, bleibt das Schreibheft meist vor einer Art Betriebsblindheit gefeit, die zwar funkelnde neue Schätze zu heben weiß, doch in der permanenten Bewunderung allzu makellos und leer wird. Oder wie Slauerhoff in einer Tagebuchnotiz vom 18. Juli 1927 schreibt: „Nur zu leben scheint nicht mehr zu genügen. Jeder bemüht sich, seine eigene zwanghafte, unlautere Existenz zu rechtfertigen, und gibt deshalb Erklärungen ab, in denen das reine Leben und die einfache Natur angegriffen und ungerecht behandelt werden. Und dies ist der beste Beweis für deren Existenz. Vergiß das nie.“

Hermann Wallmann und Norbert Wehr schreiben mit dem Schreibheft die Geschichte ihrer Überraschungen. Das ist zumindest ihr Projekt und, da nicht frei von einer gewissen Zirkularität, auch ihre Illusion. Weder einzelne Bücher noch Autorenpersönlichkeiten, sondern Schreibweisen stehen im Mittelpunkt ihres Interesses, die aber nur dann ins Heft gelangen, wenn eine Präsentationsform gefunden werden kann, die sie miteinander korrespondieren läßt. Eng mit der eigenen Produktion ist der Austausch mit anderen Zeitschriften verbunden, das Gespräch mit Autoren, Verlagen, Kritikern und Wissenschaftlern. Um in diesem sogenannten Literaturbetrieb nicht nur gut geschmiertes Rädchen sein zu müssen, ist Neugier nötig, die Bereitschaft, auch mal mit einem Bein aus dem Betrieb herauszutreten, damit der konditionierte, betriebsbedingte Widerwillen gegen Neues sich noch überraschen lassen kann. Es geht also weniger um die Bildung einer literarischen Gemeinde, die sich nur noch die Namen von Autoren wie Losungen zuraunen muß, als um die überraschenden Wendungen eines fortdauernden Gesprächs über Literatur. Guido Graf

„Schreibheft“, Nr. 47, 1996, Rigodon-Verlag, Essen