: In der Sprechminute
■ Neue Gebührenordnung erlaubt Ärzten 150 Sekunden Behandlungsgepräch im Monat Von Patricia Faller
Neulich beim Hausarzt: Undefinierbare Pieptöne aus dem Behandlungszimmer, angeregte Konversation im Wartezimmer. „Mein Gott, sehen Sie krank aus“, bedauert ein selbst nicht gerade blühend aussehender mittelalterlicher Herr seinen Nachbarn: Er solle sich doch lieber gleich eine ordentliche Medizin verschreiben lassen. „Reden hilft da gar nichts“, sagt er kategorisch, und seine Gattin nickt bestätigend. Der derart Attackierte lächelt mitleidig. Das mag ja alles so sein, läßt er den Herrn wissen, von seinen siebeneinhalb Minuten werde er dennoch nicht eine Sekunde abgeben. Die junge Dame zwei Stühle weiter hat mehr Glück: Immerhin fünf Minuten hat sie bei ihrer Nachbarin locker gemacht – gegen ein romatisches Abendessen „mit allem Drum und Dran“.
Derweil im angrenzenden Behandlungszimmer: „Sie haben ein Magengeschwür“, eröffnet der Arzt seinem Gegenüber. Der will gerade von dem unerträglichen Mobbing am Arbeitsplatz erzählen, da quäkt der Küchenwecker. „Tut mir leid“, bedauert der Arzt. „Ihre Zeit ist abgelaufen. In drei Monaten können wir uns weiterunterhalten“. Und setzt noch einen drauf: „Ach übrigens, Ihre Ganzkörperuntersuchung haben Sie damit für dieses Quartal auch schon. Dabei haben Sie noch großes Glück. Die Patientin, die nach Ihnen kommt, muß drei Monate warten. Denn nur jeder elfte Kranke hat schließlich ein Recht auf eine Von-Kopf-Bis-Fuß-Untersuchung.“
Da fängt das Magengeschwür erst richtig an zu drücken. Mit hängendem Kopf will der Patient das Behandlungszimmer verlassen, als sein Hausarzt die Gelegenheit zum Rollentausch ergreift. Er legt sich auf die Couch und klagt sein Leid: Schuld an der ganzen Misere sei die neue Gebührenordnung, die unlängst rückwirkend zum 1. Januar 1996 von Niedergelassenen Ärzten und Krankenkassen gemeinsam beschlossen wurde. Danach dürfen die niedergelassenen Ärzte pro PatientIn und Vierteljahr siebeneinhalb Minuten Gespräch abrechnen.
Eine „Selbstausrottung“, schimpft der Allgemeinmediziner, mit der sich die Ärzte selbst den Garaus machen würden. Im Krieg der Apparate- gegen die „Quasselmedizin“ käme es zu einem Massen-Praxen-Sterben bei den Hausärzten, während sich die Fachärzte eine goldene Nase verdienten. Dabei sollte noch im Januar die „sprechende Medizin“ aufgewertet werden, weil man erkannt hatte, welch wichtigen Beitrag sie zur Gesundheit leiste und wie damit Kosten für unnütze Behandlungen und Medikamente vermieden werden könnten. Ganz abgesehen davon, daß die psychosomatische Behandlung für viele PatientInnen die wirksamere Methode sei, weil sie nicht nur an Symptomen rumdoktere.
„Jetzt sollten das alles nur Lippenbekenntnisse sein“, klagt der Hausarzt empört. Er müsse dichtmachen, wenn die Bezahlung so schlecht bleibe. Er wisse von mindestens 20 Kolleginnen und Kollegen, die sich über Jahre hinweg berufsbegleitend in Psychosomatik weitergebildet hätten und die jetzt existentiell bedroht sind. Patienten, mit denen man reden müsse, könne man eben nicht am Fließband abfertigen, wie beispielsweise beim Röntgen. Es sei ja auch ein offenes Geheimnis, daß rund ein Drittel der 3000 Hamburger Arztpraxen bereits pleite sei. Nach der neuen Regelung könnte man davon ausgehen, daß dann bei der Hälfte der niedergelassenen Ärzte die Ärzte- und Apotheker-Bank das Sagen hat.
Der derart mißbrauchte Patient blickt stumm auf seine Uhr – die siebeneinhalb Minuten waren längst überschritten.
Alles erfunden und erlogen? Fragen Sie doch mal Ihren Hausarzt – wenn Sie noch soviel Minuten übrig haben. Wir empfehlen hübsch gestaltete Gutscheine für Arzt-Sprechminuten, die zu allen Anlässen verschenkt werden können. Ganz im Trend sind auch Tauschbörsen: „Biete Ganzkörperuntersuchung, suche Ferienunterbringung für Papagei.“
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