„Da kommt alles wieder hoch“

Emigrierte Berliner Juden auf einer Reise in die Vergangenheit. Schwer zu ertragen, „aus diesen furchtbar ordentlichen deutschen Listen“ den Todesort der Mutter zu erfahren  ■ Von Constanze v. Bullion

Langsam, ganz langsam rutscht der Finger die lange Liste hinunter. Stockt einen Augenblick. Und bohrt sich plötzlich in das eng bedruckte Papier. „Berger, Chaja“ * steht da, geboren 1898 in Galizien, seit 1905 wohnhaft in Berlin, 1942 Transport nach Krakau, „verschollen“. Die Dame mit dem grauen Haarknoten nimmt mit einem Ruck die Brille von der Nase. Schiebt das dicke Buch ein Stück von sich weg und verläßt den Raum. Im Vorschiff der MS Havelstern, zwischen spiegelblanken Panoramafenstern und symmetrisch dekorierten Restauranttischen hat Hannah Berger * ihre Mutter wiedergefunden. In einem Gedenkbuch Berlins über die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.

„Für manche ist das ein sehr, sehr schwerer Schritt“, weiß Marianne Brinckmeier. Die stellvertretende Präsidentin des Abgeordnetenhauses hat eben die 170 Gäste begrüßt, die eine Dampferfahrt über die Havel machen. Vom Wannsee über Babelsberg nach Potsdam soll es gehen: der „entspannende Programmteil“ einer Reise durch die Vergangenheit, zu der der Senat vertriebene und emigrierte Juden aus Berlin eingeladen hat.

Ihren Besuchern „ein Trauma von der Seele nehmen“ und „Brücken über das Grauen schlagen“ will Elleonora Schulte-Goebel, die Leiterin des Emigrantenreferats. Viermal im Jahr lädt sie Ex- Berliner aus Israel, den USA, Südamerika oder Osteuropa ein – vor allem solche, die sich bisher nicht zu einem Deutschlandbesuch entschließen konnten. Sie hofft, daß sie „am Ende weniger an der Vergangenheit leiden“. Und preist wortreich eine Bundesrepublik, „wo es keinen Rassismus mehr gibt“. Die Gäste schlagen leisere Töne an.

„Woanders würde ich sagen: toll, great.“ Nurit Berger * zeigt auf die pittoreske Kulisse des Babelsberger Schloßparks, die am Ufer vorbeizieht. „Aber hier erreicht mich die Schönheit irgendwie nicht.“ Achselzuckend setzt die 29jährige Israelin mit den rotgefärbten Haaren und dem afrikanischen Wickelrock die Videokamera an. Filmt ein paar Sekunden und läßt sich gleich wieder auf die altrosa Sitzpolster fallen. „Es ist einfach ein komisches Gefühl“, sagt sie, „und wenn meine Großmutter nicht gewollt hätte, wäre ich nie hierher gefahren.“

Nurits Großmutter kommt aus dem Bezirk Mitte. Ein winziges Textilgeschäft hatten ihre Eltern, „keine sehr glücklichen Verhältnisse“, wie sie meint. Zwölf Jahre war die Tochter polnischer Einwanderer alt, als Hitler an die Macht gewählt wurde. Damals waren ihre Eltern schon getrennt, und sie besuchte das Sophienlyzeum, wo „fast nur Jungs und ein paar jüdische Mädchen“ waren. Wo Nicht-Juden „Backpfeifen“ bekamen, wenn sie „uns hänseln wollten“. Und wo 1933 Schulgeld für alle „rassefremden Kinder“ eingeführt wurde. „Das konnten wir nicht“, erinnert sich die heute 75jährige. „Stolz sein“ lautete von da an die Devise für Hannah Berger, die jetzt nur noch „eine Jüd'sche“ war.

Was ihre Familie unterschied von ihren christlichen Nachbarn, war bis dato wenig spektakulär. „Fromm waren wir gar nicht“, erzählt die Emigrantin, „darüber hat sich mein Großvater immer aufgeregt.“ Auf die üblichen Feste und Synagogenbesuche, koscheres Essen und das vage Gefühl „anders zu sein“, beschränkte sich ihr jüdisches Selbstverständnis. Und als die gelben Sterne ausgegeben wurden, „da hat man sich irgendwie eingeordnet“.

Die „Jugend Alija“, eine zionistische Flüchtlingsorganisation, holte sie 1938 raus aus dem täglichen Spießrutenlauf – kurz vor der Pogromnacht. Ihre Eltern organisierten ihr ein Visum für Palästina, „das war nicht einfach, weil die englische Regierung in Israel nur Leute mit Geld wollte“. Was dann kam, war ein Abschied am Anhalter Bahnhof, wo „keiner wußte, daß wir uns nie wiedersehen“.

Wiedergesehen hat sie Berlin erst jetzt. „Es war nicht einfach zu fahren“, erzählt sie, „gar nicht.“ Da war die Angst, „Leute zu treffen, die mitgemacht haben“. Aber auch der Wunsch, das Grab ihrer Schwester am Jüdischen Friedhof in Weißensee zu besuchen. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell.

„Wo ist Tietz?“ fragte sie sich am Alexanderplatz, dessen Neubauten über ihr Elternhaus gewachsen sind. Auf den Kudamm fuhr man – „sie leben weiter, alles so reich“, schoß es ihr durch den Kopf – durch die Fasanenstraße und zum Breitscheidplatz. „Da kommt wieder alles hoch“, sagt sie fast entschuldigend. Als sie die Gedächtniskirche besichtigen sollte, „konnte ich keine Minute bleiben. Das sind doch die, die immer vom Helfen geredet haben und nie geholfen haben.“

Hannah Berger kramt ein unscharfes Farbfoto aus ihrer Handtasche. Die Ruine des Anhalter Bahnhofs ist darauf zu sehen. Eine junge Frau hat ihr das Bild geschenkt, nachdem sie die Reste der Bahnhofsfassade an den Fenstern des Reisebusses vorbeirauschen sah. Jetzt hält sie es fest wie einen Talismann. Als könnte es Ersatz sein für die Familienfotos, die sie ihrer Enkelin nicht zeigen kann. Für fehlende Erinnerungsstücke, die „alle bei meiner Mutter geblieben“ sind.

Ihre Mutter fuhr nicht. Weil sie „keine Möglichkeit hatte, wegzukommen“. Über Fluchthelfer, Verwandte und heimliche Freunde hielten die beiden Kontakt. Hannah Berger arbeitete inzwischen in einem Kibbuz in Palästina – und fieberte von Brief zu Brief aus Berlin. „Bis es dann aufgehört hat.“ Was sich 1942 in Deutschland abspielte, konnte sich die 21jährige nur noch aus Zeitungsartikeln zusammenreimen.

Das dicke Buch, das im Vorschiff der MS Havelstern liegt, gibt ihr Antwort auf eine Frage, die sie sich lange nicht mehr gestellt hat. „Man hört irgendwann auf zu suchen“, erklärt sie. Daß es Krakau war, wo man ihre Mutter hinbrachte, wußte sie bis heute nicht. Und es „aus diesen furchtbar ordentlichen deutschen Listen“ zu erfahren, ist schwer zu ertragen. Bereut hat Hannah Berger ihre Reise trotzdem nicht. Weil sie gemerkt hat, daß die Einladung „aus vollem Herzen“ kam. Und weil Enkelin Nurit findet, daß „Berlin eine ganz normale Stadt geworden“ ist.

* Namen geändert