Bewegung im rechtsfreien Raum

■ Angst vor Kinderpornografie: Warum gerade Fotografen wie Jock Sturges oder Larry Clark so unter Beschuß geraten?

Die Justiz macht mobil – gegen KünstlerInnen, die sich in irgendeiner Form mit Sex beschäftigen. Von dieser neuen Ranküne betroffen sind auffälligerweise besonders FotografInnen und da vor allem die, die Kinder ablichten. Diese Angriffe haben allerdings keinerlei Einfluß auf ihren Erfolg. Oder doch?

In dieser Lage ist es jedenfalls für mich blanke Ironie, daß „Index“ Amerika als unzensierte Gesellschaft darstellt, während wir zur gleichen Zeit Zeuge eines zunehmenden Zensurgebarens in den USA werden. Angriffe auf künstlerische Werke mehren sich, eine umfassende Angst vor Kinderpornographie und neuen Technologien gefährden jede sexuell explizite Äußerung in diesem Land.

Tatsache ist, daß der Argwohn gegenüber sexuellen Inhalten ein solches Ausmaß erreicht hat, daß der Präsident sich genötigt sah, einen „Communications Decency Act“ zu unterzeichnen, ein Gesetz, das sich nicht nur gegen Obszönität richtet, sondern jede umgangssprachliche Äußerung kriminalisiert, sobald sie öffentlich im Cyberspace erscheint (das Gesetz wurde am 14. Juni vom Bundesgericht in Philadelphia außer Kraft gesetzt, weil es gegen die Verfassung verstößt, d. Red.).

Die KünstlerInnen jedoch, die politisch und vom Gesetz am häufigsten bedroht werden, sind die, die sich mit dem am stärksten tabuisierten Thema, der Sexualität von Kindern nämlich, auseinandersetzen – ein Thema, das auch in politischen Diskussionen immer mehr Raum einnimmt.

Während der Kongress bemüht ist, Gesetze zur Lösung des Problems zu formulieren, haben Bundesgerichte aus Sorge um die Gefahr sexuellen Mißbrauchs von Kindern zunehmend restriktive Gesetze akzeptiert, die den Sachverhalt Kinderpornographie immer weiter und subjektiver auslegen. Ihre Einschätzung der Gefährdung von Kindern hat den Obersten Gerichtshof dazu verleitet, in entsprechenden Fällen einige der wichtigsten Prinzipien des Schutzes der freien Meinungsäußerung, wie sie in Obszönitätsprozessen gegen Erwachsene gelten, zu streichen. Der traditionelle Schutz künstlerischer Freiheit ist dabei immer mehr aufgegeben worden.

Seit vielen Jahren ist im Erwachsenenstrafrecht zur Obszönität Prinzip, daß, gleichgültig wie schockierend ein sexuell explizites Werk ist, es unter das Gesetz der freien Meinungsäußerung fällt, sobald ihm ein künstlerischer Wert zugestanden werden kann.

Unter den restriktiveren Gesetzen gegen Kinderpornographie jedoch ist die Frage, ob ein Werk Kunst ist oder nicht, irrelevant geworden. Denn das Gesetz zur Kinderpornographie geht davon aus, daß Bilder, die durch Verletzung eines Kindes zustande kommen, verboten werden müssen. Bisher hat sich kein Gericht gefunden, das bereit gewesen wäre, eine Ausnahme für Arbeiten mit ernsthaftem künstlerischem Wert zuzulassen. Das oberste Gericht entschied in seinem ersten Urteil zur Kinderpornographie 1982: Es ist für das (mißbrauchte) Kind irrelevant, ob das Material ... (künstlerischen) Wert hat oder nicht.

In einem späteren Urteil warnte Richter Brennan das Gericht vor der Gefahr, die einer ganzen Tradition großer Maler von Kinderakten von Donatello bis Degas durch dieses Gesetz drohe. Seine Warnung stieß auf taube Ohren, und das Gericht kreierte einen Präzedenzfall, der seine Wirkung auf die Kunst nicht verfehlte.

Was die Fälle von Kinderpornographie für KünsterInnen so gefährlich macht, ist die Tatsache, daß das Gericht mit Gesetzen arbeitete, die den Sachverhalt der Kinderpornographie äußerst vage und weitausholend definieren. Im Fall „Osborne versus Ohio“ wurde als verfassungsmäßig akzeptiert, Kinderakte zu verbieten, sobald die Darstellung „sich auf die Genitalien konzentriert“. Kürzlich wurde von einem Bundesrevisionsgericht das Kinderpornographiegesetz derart weitläufig interpretiert und jede Darstellung der genitalen Zone, selbst bekleidet, verboten, daß selbst der Generalstaatsanwalt meinte, dies ginge vielleicht doch etwas zu weit.

Einige KünstlerInnen haben bereits den Preis dafür zahlen müssen: Jock Sturges' Studio wurde vom FBI durchsucht; ein Kunststudent aus New Jersey wurde von seiner Familie getrennt, weil er als Teil seiner Seminararbeit seine fünfjährige Tochter nackt fotografiert hatte. Ein Psychologe sagte später aus, daß der einzige Schaden, den das Kind erlitten hatte, von seiner polizeilichen Vernehmung und der erzwungenen Abwesenheit des Vaters stammte.) Und ein Buchladen wurde vor Gericht gebracht – wobei die Anklage später aus technischen Gründen fallengelassen wurde – weil er Pasolinis Film „Salo“ verkaufte, einen hochgelobten, aber bestürzenden Film, der sexuelle Folter von Faschisten an Kindern zeigt.

Andere KünstlerInnen sind bisher einer Klage entgangen, scheinen jedoch durch dieses Gesetz extrem gefährdet. Da sind beispielsweise Sally Manns Aufnahmen von ihren nackten Kindern, die einige Leute als erotisch empfinden. Und da ist ebenfalls Larry Clark, der in seinem Buch „Teenage Lust“ Minderjährige im Vollzug expliziter, manchmal sogar gewaltsamer sexueller Akte zeigt. Eines seiner Bilder dokumentiert die offensichtliche Vergewaltigung eines jungen Mädchens, das unter Drogen steht. Mann und Clark bewegen sich mit ihren Arbeiten in einem rechtsfreien Raum. Ich bin davon überzeugt, daß ich in einigen Staaten der USA verhaftet werden könnte, würde ich Larry Clarks Bilder – selbst als Teil eines Vortrags – öffentlich zeigen. Einige seiner Arbeiten scheinen so eindeutig eine Verletzung der existierenden Gesetze über Kinderpornographie, daß seine einzige Rettung, würde er angeklagt, eine Ausnahmeregelung für künstlerische Werke wäre – eine Regelung, die bisher vom Gericht nicht akzeptiert worden ist.

Es ist kein Zufall, daß diese KünstlerInnen FotografInnen sind, denn Fotografie ist das Medium, das solcher Verfolgung am stärksten ausgesetzt ist. Denn nur wenn ein reales Kind in der Herstellung von Kinderpornographie involviert ist, werden die entsprechen Gesetze angewandt.

Was aber macht Fotos so bestürzend? Eine Antwort darauf ist, weil ihnen das Moment des Mißbrauchs inhärent ist. Sie stehlen die Seele. Sie verfälschen die Realität. Wie Susan Sontag in ihrem Essay „Über Fotografie“ schrieb: „Menschen zu fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie sieht, wie sie sich selbst nicht sehen können, ein Wissen über sie zu haben, das sie selbst nicht haben können; es macht Menschen zu Objekten, die symbolisch in Besitz genommen werden können... Jemanden fotografieren heißt einen sublimierten Mord begehen...“

Sally Manns Arbeiten spielen mit dieser Qualität von Fotografie. Benutzt sie die Sexualität ihrer Kinder für ihr eigenes Werk? Ein Kritiker äußerte einmal Mitleid mit ihren „ohnmächtigen, von der Kunst mißbrauchten Kindern“. Sie sind häufig in Szenarien dargestellt, in denen sie verletzt scheinen, was die Frage nach Manns mütterlichen Qualitäten aufwirft. Die Möglichkeit von Ausnutzung und Mißbrauch in Manns Arbeiten sind ein Kommentar zu Verrat und Gewalt, die im Akt des Fotografierens liegen.

Es ist nicht nur die Fähigkeit der FotografInnen, ihren Gegenstand zu verraten und in Besitz zu nehmen, die uns bestürzt. Es ist auch das durch sie hervorgerufene Gefühl, es hier mit Realität zu tun zu haben. Sie verblüfft uns als Betrachter und verleitet uns dazu, eine Repräsentation als Realität zu sehen, den Mißbrauch zu sehen und nicht ein Bild, das Fragen aufwirft über Mißbrauch.

Eine weitere Gefahr für die Fotografie ist, daß ihre enge Allianz mit der Wirklichkeit zu ihrer historischen Entwertung geführt hat, einem Status als Kunst zweiter Klasse. Da ist dieses Gefühl, daß das „jeder kann“, so als wären FotografInnen keine wirklich ernsthaften KünstlerInnen. Diese hartnäckige Annahme läßt vermuten, daß, selbst wenn das Gericht eine Ausnahmeregelung wie in den entsprechenden Obszönitätsgesetzen auch für Anklagen wegen Kinderpornographie zuließe, dies nicht ausreichend solche Arbeiten schützt wie die von Sally Mann. Denn das Medium selbst, mit dem sie arbeitet, ist bereits verdächtig.

Und schließlich kann es sein, daß die Gefährdung der Fotografie durch Zensur unsere tiefsitzenden kulturellen Ängste vor dem Bild an sich spiegelt. Dieser Angst liegt ein gewisser Hang zum elitären Denken zugrunde. Denn traditionell waren Bilder die Bücher der Analphabeten. Kirchenfenster erzählten die Geschichten der Bibel denen, die nicht lesen konnten. Die Geschichte der Zensur ist zu einem gewissen Grad die Geschichte einer Unterdrückung und Kontrolle dessen, was die Leute sehen, und dem liegt die elitäre Angst vor dem Zugang der Massen zum Wissen zugrunde. Wer zensiert, maßt sich überheblich die Rolle des Informierten an. Er sagt: Ich kann dieses Bild kühl und leidenschaftslos zur Kenntnis nehmen, aber ich muß Menschen, die schwächer sind als ich, vor ihm bewahren. Es könnte sie zu Gewalt, Zügellosigkeit und Wahnsinn verleiten.

Dabei ist es eine Ironie, daß trotz aller Gefährdung durch solche Zensuraffekte sowohl Larry Clark als auch Sally Mann kommerziell und in der Welt der Kunst außerordentlich erfolgreich sind: Sally Manns Ausstellungen sind ausverkauft, Larry Clark ist mit „Kids“ auch von der Filmindustrie entdeckt worden. Ihr Erfolg bei gleichzeitiger Bedrohung durch das Gesetz suggeriert ein komplexes Verhältnis von gesetzlichem Tabu und künstlerischem Ausdruck – ein Verhältnis, das auch auf anderen Gebieten unserer Kultur zum Tragen kommt. Gerade in der Hochphase der politischen und von den Medien stark mitgetragenen Angstwelle um Kinderpornographie produzierte Calvin Klein seine notorischen und enorm erfolgreichen Jeans-Anzeigen, die aussehen wie Sammelbilder eines Pädophilen.

Manchmal reagiert Kultur auf das Recht wie ein trotziges Kind. Vielleicht hat die neue Zensurstimmung in Amerika eben jene kulturelle Tendenz erst hervorgerufen, die sie zu unterdrücken suchte. Amy Adler

Amy Adler ist Rechtsanwältin in New York und beschäftigt sich häufig mit Zensurfällen. Ab Herbst wird sie an der New York University of Law unterrichten.