Freiheit, die sie meinen

Muß die Kunst alles tun, was ihr die Verfassung erlaubt? Der Avantgardismus ist nur noch hohle Geste. Eine Zensur findet nicht statt – meint jedenfalls  ■ Roger Kimball

Wer Geschmack am Absurden hat, findet in den schicksten Ausstellungsräumen für zeitgenössische Kunst sein Futter. Da gibt es zunächst einmal die vielen Elemente des Grotesken an diesem Spektakel: aus öffentlichen Geldern geförderte „Performance“- KünstlerInnen (oder soll ich sagen Performance-„KünsterInnen“), die sich mit Schokolade einschmieren und dann herumspringen und ihr Publikum über die Übel von Patriarchat, Kapitalismus und so weiter belehren (Karen Finley); KonzeptkünstlerInnen, die sich unter einem extra für sie eingezogenen doppelten Boden verstecken, dort stundenlang vor sich hinmasturbieren und ihr Geseufze und Geflüster den Galeriebesuchern, die ahnungslos über ihnen herumtrampeln, vorspielen lassen, (Vito Anconi); lächerliche Gestalten wie der Typ, dessen berühmteste Arbeit er selbst ist: angenagelt an ein Auto (Chris Burden); und dann gibt es noch all die anderen Zauberkünstler jeglicher Couleur, die ihren Mangel an Begabung und künstlerischer Aussagekraft mit einer Mischung aus Egomanie, Schamlosigkeit und einem ausgefeilten Sinn für den Markt wettzumachen versuchen.

Dieser Markt der Absurditäten, zu dem die Kunstwelt geworden ist, bietet jedem Studenten menschlicher Albernheit viele Stunden kurzweiliger Unterhaltung. Nicht, daß alle KünstlerInnen sich auf diesen entwürdigenden und jeder Würde selbst beraubenden Nebenschauplätzen aufhalten – natürlich ist dem nicht so. Aber an dieser Stelle ist es nötig, scharf zu unterscheiden zwischen dem Leben einer ernsthaften Kunst, die ihre eigenen Bahnen zieht, und den schicken Produkten von „Randständigkeit“, die zusätzlich korrumpiert werden einerseits von einem akademischen Hermetismus und zum anderen durch eine Sucht nach Extremismus. Natürlich zieht diese Randständigkeitskunst alle Aufmerksamkeit auf sich, besetzt die Galerien von Soho und TriBeCa (und Cork Street), die massenhaft öffentliche Gelder des National Endowment of the Arts einsammeln, und wird ellenlang beschrieben in Kunstzeitschriften wie Artforum und October, die sich um Leser nicht weiter bekümmern. Gäbe es ein nationales Verbot solcher Wörter wie „Überschreitung“, wären einige gutgepolsterte Bewohner der Kunstwelt sofort arbeitslos. Denn die Ware, mit der sie handeln, ist nicht etwa Kunst, sondern eine bestimmte Spezies von Kulturpolitik, die im Gebiet der Kunst wildert, um sich, erstens, ihr Prestige zunutze zu sichern, und zweitens, um Immunität zu erlangen gegen bestimmte Formen von Kritik.

Zu einem großen Teil läßt sich die Kalamität der zeitgenössischen Kunst zurückführen auf die Folgen der Avantgarde, auf die „Gegenbewegung“ so vieler Ambitionen und Taktiken, die in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden und legitimiert wurden, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Blüte kamen und jetzt eine Art nachgetragene Existenz im Zwielicht der Postmoderne führen. Zu Teilen ist die heutige Situation, wie die Avantgarde selbst, eine Komplikation (um nicht zu sagen Perversion) unseres romantischen Erbes. Die Erhebung von Kunst aus dem Stand eines pädagogischen Zeitvertreibs zur Bedeutung einer Primärquelle des Geistigen, das Bild des Künstlers als einer zerrissenen Gestalt der Gegnerschaft: all das erreichte seinen ersten Höhepunkt in der Romantik. Weitergetrieben wurden diese Topoi, als die Avantgarde vom Affekt zur Bewegung wurde und schließlich eine eigene Tradition begründete.

Der französische Kritiker Albert Thibaudet faßte die Hauptzüge dieser neuerblühten Tradition zusammen in seinen Reflexionen zum Symbolismus in der Literatur. Thibaudet notierte 1936, daß der Symbolismus Literatur „an den Gedanken einer unendlichen Revolution gewöhnt“ und in der französischen Literatur „ein neues Klima“ geschaffen habe, ein Klima, das sich ergibt aus einem „chronischen Avantgardetum der Dichtung, einer permanenten Frage des „Was ist neu?“ des „informierten“ Lesepublikums, der ständigen Neuentstehung von Schulen und Manifesten, und schließlich aus dem Ehrgeiz, jenen extremen Punkt zu besetzen, eine Stunde lang wenigstens, inmitten der brausenden See ganz oben auf der Welle zu reiten. „Die Revolution des Symbolismus“, so Thibaudet, „ist vielleicht wirklich die allerletzte gewesen, denn sie hat das Thema der chronischen Revolution in den normalen Kanon der Literatur eingeführt.“

Das Problem ist, daß die Avantgarde ihrem eigenen Erfolg zum Opfer gefallen ist. Nachdem sie eine Schlacht nach der anderen gewonnen hatte, wurde aus einer störrischen bourgeoisen Kultur eine begeisterte Mitstreiterin in den Kämpfen gegen den etablierten Geschmack. In diesem Sieg jedoch lag für die Avantgarde der Keim ihrer eigenen Irrelevanz, denn ohne glaubwürdigen Widerstand mußten ihre Gegenbewegungen auf das Niveau ästhetischer Clownerien absinken. In diesem Sinne hat die Institutionalisierung der Avantgarde – oder was der Kritiker Clement Greenberg „Avantgardismus“ nannte – sich selbst das Totenglöckchen geläutet.

Da die Suche danach, etwas Neues zu sagen, immer verzweifelter wird, verfallen KünstlerInnen auf immer extremere Aktionen, um überhaupt bemerkt zu werden. Nachdem man sich an einen Volkswagen angenagelt hat, was bleibt dann noch zu tun? Ohne den Nährboden des Normalen degenerieren extreme Gesten – seien sie stilistische, moralische oder politische – zu Manierismus.

Wenn die ästhetische Bedeutung von Kunst so minimal wird, füllt Politik die Leere auf. Von den kruden politischen Allegorien eines Leon Golub oder Hans Haacke bis zu den feministischen Argumentationen Jenny Holzers, Karen Finlays oder Cindy Shermans ist vieles, was sich heute unter dem Namen Kunst tummelt, ohne Rekurs auf politische Inhalte vollkommen unverständlich. Was wir sehen, sind in vielen Fällen nichts anderes als politische Gesten, die sich das Prestige der Kunst zunutze machen, um selbst an Autorität zu gewinnen. Ein anderes Wort für solcherart Aktivitäten ist Propaganda. Man braucht kaum zu erwähnen, daß die Politik, um die es dabei geht, absolut vorhersagbar ist. In der Regel sind es die heiligen Kühe der Linken, und zwar nicht nur in Standardausführung, sondern auch als Karikatur. Es ist die politische Variante der Serienbilder: Die Helden Aids, Obdachlosigkeit, „gender politics“, Dritte Welt und Ökologie stehen den Beelzebuben Kapitalismus, Patriarchat, USA, traditionelle Moral und Religion gegenüber.

Dies ist der Zusammenhang, in den wir den Aufschrei über „Zensur“ in der amerikanischen Kunstwelt stellen müssen. Ich benutze Anführungszeichen, denn die Behauptung, daß Kunst – oder jegliche Form der freien Rede – in den USA heute zensiert würde, ist vollkommener Schwachsinn. Jeder Besuch am nächsten Kiosk, jeder Fernsehabend auf MTV oder einem der vielen anderen Kanäle für „Erwachsene“, ein Besuch der biennalen Ausstellung des Whitney-Museums wird einen überzeugen: Überall ist in Amerika die allerumgangssprachlichste Sprache zu hören, sind die allerdeutlichsten Bilder aller möglichen sexuellen Überschreitungen und Perversionen zu sehen, sind die hetzerischsten und beleidigendsten Reden gegen Politiker und religiöse Autoritäten zu lesen. Die Regierung ist es zufrieden, das Rauchen und die Zusammensetzung von Kartoffelchips zu regulieren; mit dem, was KünstlerInnen oder soi-disant KünstlerInnen sagen oder mit ihrer Kunst repräsentieren, beschäftigt sie sich nicht.

Und doch hören wir immer wieder, daß die Freiheit der Kunst bedroht sei. Wie ist das möglich?

Die Kontroverse begann vor ein paar Jahren mit zwei Fotografen, Andres Serrano und Robert Mapplethorpe. Serrano wurde über Nacht berühmt mit seinem „Piss Christ“, der Fotografie eines Kruzifixes, getaucht in den Urin des Herrn Serrano. Mapplethorpe gelangte ins Rampenlicht mit seinen Fotografien aus der sadomasochistischen Halbwelt der Homosexuellen. Ursprünglich war nicht die Existenz oder Zirkulation dieser Bilder kontrovers, sondern nur die Tatsache, daß ihre Ausstellung teilweise mit Geldern des National Endowment of the Arts, einer Regierungsinstitution, möglich gemacht wurde.

Es war wirklich unglaublich. Von einem Tag zum anderen wollte man uns weismachen, daß die Verweigerung von Regierungsgeldern gleichbedeutend sei mit Zensur oder einem gefährlichen Angriff auf den ersten Zusatzartikel (Freiheit der Kunst). Art Journal, offizielles Organ der College Art Association, der größten und wichtigsten Organisation akademischer Kunstlehrender des Landes, brachte 1991 gleich zwei ganze Hefte zum Thema Zensur heraus. Einer der geladenen Herausgeber war Robert Storr, Verkörperung kunstweltlicher Trendiness, kürzlich als Kurator des New Yorker Museum of Modern Art berufen. Sein eigener Text war betitelt: „Kunst, Zensur und der erste Zusatzartikel: Dies ist kein Test“. Man kennt das Skript: Die USA befinden sich im Würgegriff der Rechten: „An jeder Front“, schrieb er, „wird das Gesetz zu Hilfe genommen, um ernsthafte KünstlerInnen, clevere Opportunisten, begeisterte Amateure und ganz normale Bürger davon abzubringen, die Welt so zu repräsentieren, wie sie sie sehen.“ Hätte Mr. Storr doch nur einen dieser normalen Bürger oder gar „ernsthaften KünstlerInnen“ zitiert, die auf diese Weise behindert worden sind. Aber natürlich konnte er sie nicht zitieren – denn es gibt sie ganz einfach nicht.

Statt dessen offerierte Mr. Storr dem Lesepublikum des Art Journals ein Beispiel des großen Rundumschlags, für den alles, was weniger ist als absolute Freiheit, unerträgliche Unterdrückung bedeutet. Dementsprechend war sein Hauptanliegen bezüglich des ersten Zusatzartikels die Erlaubnis, in der Öffentlichkeit dreckige Wörter auszusprechen. „In letzter Konsequenz geht es bei der Freiheit der Meinungsäußerung nicht so sehr um die Frage, wann jemand in einem vollbesetzten Theater ,Feuer!‘ rufen darf, sondern ob man in einer öffentlich finanzierten Produktion auf der Bühne ,Scheiße!‘ schreien darf oder ,Fuck!‘.“ Die beeindruckende Oberflächlichkeit dieses Storrschen Auftritts wurde zusammengefaßt in seiner Behauptung, daß „die Verteidigung der freien Rede auf dem Willen beruht, Tabus zu brechen, wo und wann immer sie auftauchen“. Es lohnt sich, bei dieser Behauptung ein wenig zu verweilen und sich vorzustellen, was für ein Alptraum das Leben in einer Gesellschaft ohne Tabus wäre.

Für Mr. Storr jedoch ist die Achtung von Tabus nichts anderes als „repressives Dekorum“ und „allgemeine Selbstzensur“. (Ist „Selbstzensur“ dasselbe wie Zensur?) Um uns zu demonstrieren, was er damit meint, kehrt er zum Fall Robert Mapplethorpe, dem archetypischen „transgredierenden Künstler“, zurück . Warum habe die New York Times nicht zusammen mit dem Artikel über Mapplethorpe von Hilton Kramer die in Frage gestellten Fotos veröffentlicht? Für Mr. Storr war dies ein Beispiel „vorauseilender und verurteilender Prüderie“. Um solche Auslassung wiedergutzumachen, tat er seinen LeserInnen die Liebe an, Mapplethorpes Bilder aus dem notorischen „X Portfolio“ in all ihrer Hochglanzdeutlichkeit zu reproduzieren, in denen es um gruslige Ansichten sexueller Folter und Entwürdigung geht.

Wäre das Maß der Kunst tatsächlich ihre Fähigkeit zur Provo

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

kation – wie Mr. Storr und viele gleichgesinnte Helden des Augenblicks uns eifrig versichern –, dann wären Mapplethorpes Fotografien tatsächlich Meisterleistungen. Aber Provokation ist nur das: Provokation, und kein Maß künstlerischer Qualität. Und das bringt uns zu den beiden Schlüsselfragen, mit denen wir durch diese alberne Zensurdebatte konfrontiert worden sind.

Die erste ist die nach dem, was wir den moralischen Status von Kunst nennen könnten. Man geht allgemein davon aus, daß alles, was „Kunst“ heißt, damit von aller anderen Kritik ausgenommen ist – als sichere einem Objekt sein Kunstcharakter eine Art Unverwundbarkeit gegenüber außerästhetischen Überlegungen zu. Stimmt es, daß Robert Mapplethorpes Darstellung eines Mannes, der einem anderen Mann in den Mund pinkelt, rein ästhetisch bewertet werden muß? Dostojewski hat einmal geschrieben: „Schönheit ist das Schlachtfeld, auf dem Gott und der Teufel miteinander um die Seele des Menschen ringen.“ Vielleicht ist es schwer zu entscheiden, ob Robert Mapplethorpes Fotos den Anspruch auf Schönheit erheben können, aber sie liefern unübersehbar eine moralische Provokation. Deshalb hat jener Kunstkritiker, der Mapplethorpes Bilder aus „rein formalen“ Gründen verteidigte, wobei er zum Beispiel die „klassische“ Disposition der Diagonalen anführte für ein Bild, das einen Mann zeigt, dessen Unterarm im Rektum eines anderen Mannes verschwindet, weniger Kunstkritik geboten als eine zynische Übung in nihilistischer Persiflage.

Was uns zur zweiten Schlüsselfrage bringt, nämlich die Problematik des Verhältnisses von freier Meinungsäußerung und den Grenzen akzeptablen Verhaltens. Die beiden sind nicht notwendig ein und dasselbe. Wie der Philosoph John Searle hervorgehoben hat: „Aus der Position, daß jemand das Recht auf ein Verhalten hat, folgt nicht zwangsläufig, daß dies Verhalten in Ordnung ist oder gar moralisch erlaubt.“ Die Tatsache, daß man das gesetzliche Recht auf ein bestimmtes Verhalten hat, macht dieses Verhalten nicht automatisch akzeptabel. Searle fuhr fort: „Jede menschliche Organisation, sei es Familie, Staat, Universität oder ein Team von Skifahrern, gesteht ihren Mitgliedern Rechte zu, die die Grenzen moralisch akzeptablen Verhaltens weit überschreiten. Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist, daß die Flexibilität, die für ein freies, erfolgreiches und kreatives Verhalten nötig ist, einen großen Graben verlangt zwischen dem, was diese Organisation an Rechten garantiert und was es um seines eigenen Funktionierens willen erwarten muß. Der Graben zwischen den garantierten Rechten und der erwarteten Leistung wird von der Selbstverantwortlichkeit der beteiligten Individuen überbrückt.“ In der Kunstwelt von heute wird der erste Zusatzartikel ständig herbeizitiert, um Objekte oder Verhaltensweisen zu rechtfertigen, deren einzige Raison d'être im Schockieren und Provozieren liegt. Durch solcherart permanentes Austesten der Grenzen der Kunstfreiheit hat die Kunstwelt ihre Emanzipation von allen sozialen und ästhetischen Normen bewiesen. Im Laufe dieses Prozesses hat sie nicht nur die Kunst trivialisiert sondern auch die Freiheit, in deren Namen sie kreiert ist.

Roger Kimball ist Managing Editor der Zeitschrift New Criterion und Autor des Buches „Tenured Radicals: how Politics has Corrupted Our Higher Education“ (Harper Collins).