■ Vorschlag: Müllers „Hamletmaschine“ im Schoko-Laden – (k)ein Kinderspiel
Vor einem aufgewühlten, grauen Meer steht ein junger Mann und behauptet „Ich bin Hamlet“. Er sagt es noch mal, in einem anderen Tonfall, einem anderen Dialekt, als probiere er die Rolle noch. Auf einer kunstrasenbegrünten Rampe hockt derweil der Chor, die Bücher auf den Knien aufgeschlagen, rattert er mal lauter, mal leiser den Text runter. Die Worte sind unverständlich, werden zum Geräusch. Ab und zu verharrt die vierköpfige Textmaschine auf einem deutlichen Satz wie: „Fleisch und Fleisch gesellt sich gern“.
Im Theater im Schoko-Laden hat Matthias Merkle Müller inszeniert, rhythmisch, offen, bildmächtig, leicht, doch ohne die Daseinsverzweiflung zu überspielen. Und die ist hier ja viel konkreter als bei Shakespeare. Müllers Hamlet (Kaspar Weiss) hadert mehr mit seiner Mutter, die es mit dem Mörder des Vaters treibt, als mit dem Gedanken, diesen Mord zu rächen. Und letztlich verzichtet er nicht nur auf die Rache, sondern verweigert auch seine Rolle: „Ich bin nicht Hamlet.“ Ebenso Ophelia (Stephanie Liebscher), die auf die Rampe taumelt und Wasser spuckt. Die Frau „mit der Überdosis“, „mit dem Kopf im Gasherd“ hat es satt, die ewige Selbstmörderin zu sein. Beide begehren sie auf, wagen einen Hauch von Revolte, zaudern aber eben doch. Für Optimismus gibt es keinen Anlaß.
Hamlet wäre lieber eine Frau, dann doch noch lieber eine Maschine. Dem Duell zwischen Hamlet und Laertes schaut der Prinz, nun, da er seine Rolle abgelegt hat, ungerührt zu, seinen Part spielt jetzt eine Frau. Das tödliche Finale wird gleich mehrmals abgespult, der Chor als königliche Familie kämpft, keucht, wütet und verröchelt in jedem Durchgang furioser. „Nicht sein – wetten?“ flüstert der weibliche Hamlet. Ein Kinderspiel? Das Programmheft ist zur Schnabelform von „Himmel und Hölle“ gefaltet. Und am Ende nehmen sich Hamlet und Ophelia, die zwei Königskinder, schutzsuchend in den Arm. Rückzug ins Private oder „der Rest ist Schweigen“. Anne Winter
Bis Sonntag, 21 Uhr, Schoko-Laden Mitte, Ackerstraße 169
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