Eine männliche Jungfrau wird verführt

Eric Rohmers neuer Film „Sommer“ erzählt mit großer Einfachheit von einschneidenden Erlebnissen eines jungen Mannes: Wie Gaspard zum erstenmal hofiert wird, und wie er lernt, seine Würde zu verteidigen, ohne sich zu zieren  ■ Von Anja Seeliger

Der Film hätte auch „Verführung eines jungen Mannes“ oder besser noch „Verführung einer männlichen Jungfrau“ heißen können, denn eine Jungfrau ist Gaspard ganz gewiß. Aber Rohmer hat seinen neuen Film als dritten Teil des Zyklus „Vier Jahreszeiten“ geplant, und so heißt er einfach „Sommer“.

Ein kleines Schiff steuert einen Badeort in der Bretagne an. Der Vorspann ist nicht mit Musik untermalt, nur die „wirklichen“ Geräusche sind zu hören: das Rauschen des Meeres, das Dröhnen des Schiffsmotors und das Getrappel der Passagiere auf dem hölzernen Bootssteg. Die Aussteigenden sind alle sommerlich bunt gekleidet, nur einer ist ganz in Schwarz: schwarze Kleidung, schwarzer Gitarrenkoffer, schwarze zerzauste Locken. Dieses eine Mal, wenn der erste Blick auf ihn fällt, umweht Gaspard ein Hauch von Romantik wie ein schwaches Parfüm. Dann kommt er in seinem Ferienhäuschen an, und in dem Augenblick, als er die Tür aufschließt, ist der Duft verflogen: Er kramt den Schlüssel mit einer solchen Gemessenheit hervor, daß man sofort begreift, dies ist ein sehr auf seine Würde bedachter junger Mann.

Gaspard macht alleine Ferien. Er spielt ein bißchen Gitarre, spaziert auf der Promenade, und abends geht er in eine Crêperie. Er ist etwas verlegen, wie er da so allein ißt, aber gewillt, die Situation als „normale“ zu durchleben. Natürlich vergeblich. Allein essen ist nur normal für erwachsene Männer. Für Frauen und Jugendliche gilt das nicht. Gaspard, der davon träumt, „ein Ladykiller zu sein, ohne mich anstrengen zu müssen“, wird nach kurzer Zeit von drei sehr hübschen Mädchen hofiert: Margot, Solène und Lena. Die vier tun praktisch den ganzen Film über nichts anderes als Spazierengehen und Reden.

Wie immer bei Rohmer geht es dabei um Dinge, die man das erste Mal tut. Für Gaspard ist es das erste Mal, daß er hofiert wird, und für den Zuschauer ist es das erste Mal, daß er im Kino sieht, wie sich die Liebe mit dem Kalkül mischt. Solène ist als Verführerin am aktivsten. Ihr Lächeln und ihre Blicke zeigen ihm ohne Ziererei, daß er gefällt. Kurzerhand nimmt sie ihn mit zu ihrem Onkel, wo sie die Nacht verbringen. Allerdings möchte sie nicht mit ihm schlafen: „Ich habe ein Prinzip: Ich schlafe nie mit einem Mann, mit dem ich das erste Mal ausgehe.“ Doch küßt sie ihn, und jeder begreift, daß dies ein Versprechen ist, außer Gaspard. Rohmer zeigt uns, daß all die Ziererei, die man sonst immer den Mädchen zuspricht, der Besorgnis um die eigene Würde entspricht, und das ist eine ausgesprochen männliche Angelegenheit. Man möchte schon die Geduld mit Gaspard verlieren, da sitzt er mit der Familie von Solène beim Abendessen, und einen Augenblick lang vergißt er sich und lacht – und ist unglaublich hübsch.

Rohmer streut in seinen Filmen Momente der Wahrheit aus, als platzte ein Sack Murmeln auf. Solche Szenen gelingen ihm mit scheinbar größter Einfachheit. Als Solène und Gaspard das erste Mal im Haus des Onkels allein sind, versucht Gaspard die Verlegenheit zu überbrücken, indem er auf der Gitarre ein Lied vorspielt, das er komponiert hat. Solène nimmt die Gelegenheit wahr, sich dicht neben ihn knien zu können, um vom Blatt zu singen. Und plötzlich ist alles vergessen: die peinliche Situation, die Verlegenheit, der Vorwand. Man kann ihn sehen, diesen Moment, wenn Solène all das vergißt und nur noch singt. Es ist jedesmal wie ein Wunder. Jemand tut etwas, und plötzlich ist es keine Szene mehr, die schon längst bekannt ist aus einem Buch oder einem Film. Es ist ein Versinken im Augenblick, und wenn der Moment vorbei ist, gibt es eine neue Situation. Als Gaspard die Gitarre auspackte und Solène zu ihm heranrückte, diente das einem Plan und wirkte deshalb abgenutzt. Doch als sie aufgehört haben zu singen, sehen sie sich das erste Mal.

„Sommer“. Buch und Regie: Eric Rohmer. Kamera: Diane Baratier. Mit Melvil Poupaud, Amanda Langlet, Aureliae Nolin, Gwenoelle Simon und andere; Frankreich 1996, 113 Minuten