Bad Orb hat ja sonst nichts

Viele alte Leute, reichlich verstaubtes Flair: Nicht nur die Kürzungen im Gesundheitswesen sorgen dafür, daß es schon lange nicht mehr schick ist, nach Bad Orb zur Kur zu fahren  ■ Von Heide Platen

In der Regionalbahn sitzt ein Ehepaar, er mit kariertem Stoffhut, sie frisch dauergewellt. „Seit 20 Jahren“ fahren sie zur ambulanten Badekur nach Bad Orb. Er hat es am Herzen und soll sich nicht aufregen. Die Baustellen zur Verkehrsberuhigung nimmt er dem Orber CDU-Bürgermeister trotzdem gleich am Bahnhof übel: „Jetzt mecht der des ja schon wie de Griene!“

Bad Orb am frühen Nachmittag, das ist, sagt Nico, „wie eine offene Gerontologie“. Der 16jährige Gymnasiast kommt aus Gelnhausen, auch nicht gerade New York, um seine Freundin zu besuchen: „Nichts für junge Leute.“ In Orb heißt die Wäsche noch Wäsche und nicht Dessous, und der „Hirschbraten“ ist „herzhaft“. Nico tritt grummelig gegen einen Ständer am Straßenrand, in dem Krückstöcke feilgeboten werden: „Das isses!“ Der Metzger wirbt mit Solschinken als „beliebtes Mitbringsel“. Nico: „Mitbringsel! Wer redet denn heute noch so?“ Der milde Lachsschinken, sagt Edmund Acker von der städtischen Kurbetriebsgesellschaft des Herz- und Rheumakurortes mit Resignation in der Stimme, „ist das einzige Produkt, das hier hergestellt wird. Orb hat ja sonst nichts.“

„Dort, wo die Ausläufer des Spessarts nordwärts sich gegen Vogelsberg und Rhön hinziehen, inmitten eines lieblichen Tales von großen Waldungen umgeben, liegt unser kleines Städtchen“ schrieb Hans Walter Schmidt-Polex 1924. Dort liegt es noch immer. Der Wald ist auch noch da. „Und der ist nun unser größtes Plus“, meint Edmund Acker lakonisch.

Die Stadt mit knapp 10.000 EinwohnerInnen lebt vom Gewerbe, Handel und Gastronomie und vor allem vom Kur- und Klinikbetrieb. Über 70.000 Gäste, 1,1 Million Übernachtungen, müssen jährlich untergebracht werden. Fast jede Orber Familie vermietet. Zahlreiche der im Baumarktstil herausgeputzten Häuschen sind so oder werden noch so finanziert. Die Orber, findet eine regelmäßige Besucherin, sind raffgierig: „Die wolle immer nur habbe, aber nix gebbe.“ Ihr langjähriger Kurwirt, ein Konditor, hatte ihrer Mutter als Jubiläumsgeschenk für den Dauergast eine leere Bonbonniere überreicht und ihren konsternierten Blick kommentiert: „Soll isch da etwa aach noch was enei tue?“

Kurdirektorin Verena Vorberger nimmt kein Blatt vor den Mund. Angebot und Publikum sind überaltert. Sie setzt auf neue Standards: „Früher haben die hier doch noch die Garagen vermietet. Das geht nicht mehr.“ Das Schlimmste für sie ist, wenn sie gesagt bekommt: „Das haben wir doch schon über 30 Jahre so gemacht.“ Damals ging es der seit Jahrhunderten armen Gemeinde Orb wirklich gut.

Gnädiger Baumwuchs mildert inzwischen den Baustil der Hotelkästen aus der Boomzeit der 50er und 60er Jahre. Das 1969 eröffnete Kurbad ist eine Betonkiste mit Parkplatz und Immergrün. Im nächsten Jahr soll saniert werden. Drinnen hat sich der postmoderne Gestaltungswille vorab zaghaft Bahn geschaffen. Zwei zerrupfte Kunstpalmen stehen neben dem temperierten Solebecken. Das ist nur mit Freundlichkeit auszugleichen.

Irene Probst arbeitet hier schon ein ganzes Leben, 45 Jahre lang. Sie erklärt im Inhalationsraum den Nasenschieber, tief und ruhig einatmen, aus dem die die feinzerstäubte Sole kommt wie ein frischer Meereshauch. Auch sie sorgt sich um die Zukunft: „Dieses Jahr war sehr schlimm.“

Die Gesundheitsreform und das Wetter seien heute, so Edmund Acker, das geringere Problem für die Kurstadt, die wieder um ihre Existenz kämpft. Aber, hat er festgestellt, jede politische Diskussion über Änderungen, „schafft Unsicherheit“. Um so mehr, je länger sie dauert. Die in Orb am häufigsten gebuchte ambulante Badekur, bei der die PatientInnen zur privaten Unterbringung zuzahlen müsen, sei derzeit gar nicht betroffen. Dennoch haben die Bonner Sparpläne spürbare Auswirkungen: „Es besteht ganz enormer Aufklärungsbedarf.“ Er versucht die Anfragen mit mit einem Faltblatt zu beantworten: „Sie können weiterhin zur Kur!“

Das Moorbad ist eigentlich ein Torfbad. Im Keller des Leopold- Koch-Bades drehen sich die Rührwerke und erhitzen den schwarzen, zähen Brei, neben der Sole das wichtigste Kurmittel, auf 49 Grad. Eine Pumpe befördert ihn in die darüberliegenden Badewannen. Seit 1900 bezogen die Orber den Badetorf aus einem Hochmoor in der Rhön. Erschöpfung der Vorräte und Umweltschutz machten dem ein Ende. Das Land gab Zuschüsse zu dem Pilotprojekt einer Regenierierungsanlange, mit der gebrauchter Torf wiederaufbereitet werden kann.

1064 ist Orb erstmals in einer Urkunde erwähnt. Kaiser Heinrich IV. verschenkte Orbaha nebst Salzquelle an den Mainzer Kurfürsten. Seither hat der Ort Dutzenden von Lehnsherren gehört und war deshalb immerhin keinem Herrscher untertan. Die Bürger partizipierten als Mitbesitzer der Salinen am „weißen Gold“. Der Niedergang des bescheidenen, mittelalterlichen Wohlstands begann im 30jährigen Krieg. Schweden plünderten die Stadt, Brände und Seuchen dezimierten die Bevölkerung. Orb wurde von Freund und Feind ausgeraubt, verarmte, wurde hin- und hergeschoben, gehörte Mainz, Frankfurt, Bayern und Preußen.

Das Kurmainzer Erbrecht hatte ein übriges getan. Die kleinen Fachwerkanwesen und Äcker wurden immer weiter aufgeteilt, manchmal mitten durch das Haus. In der Kirchgasse sind die schmalen Häuser sorgfältig restauriert. Am Ende steht eine der Orber Sehenswürdigkeiten: das „Kleinste Haus“, das schmalste Fachwerkhaus Hessens. Der Anbau auf dem Eckgrundstück mißt 1,58. Die bayerische Regierung veranstaltete 1836 eine Almosen- sammlung für die Orber, welche nach einem zeitgenössischen Bericht bettelnde, zerlumpte Jammergestalten waren, die sich „glücklich preisen“, „wenn es ihnen gelingt, sich einen fetten Hund oder eine fette Katze zu verschaffen“.

„Bad Orb ist“, sagt Edmund Acker, „mehrmals gegründet worden.“ Das hatte es auch jedesmal bitter nötig. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts rentierte sich die Salzgewinnung wegen der Erfindung moderner Methoden nicht mehr. Der Apotheker Franz Leopold Koch eröffnete 1837 gegen behördlichen Widerstand das erste kleine Badehaus in der maroden Salzsiederstadt, stieß aber auf wenig Gegenliebe. Eine Infrastruktur gab es nicht. 1867 kaufte Orb, inzwischen preußisch, das heruntergekommene Salinenwerk.

Der Aufschwung kam erst 1899, als Frankfurter Investoren die Sache in die Hand nahmen. Zuerst hatten sie in den Spessartwäldern, im Orber Stadtwald, nur gejagt. Dann wollten „die Jagdherren“ ihren Kurort gleich dazu. Sie kauften die Salinen, ließen sie bis auf ein Gradierwerk abreißen, legten auf dem ehemaligen Industriegelände einen Park an, und sie bauten ein Kurhaus und ein Badehaus „nach den Erfordernissen der Neuzeit“.

Bad Orb wuchs sich zu einem kleinen Modebad aus. Der Erste Weltkrieg stoppte hochfliegende Pläne, Orb wurde Lazarettstadt, die Inflation vernichtete den kurzen Reichtum. Das arme Orb hat noch heute seinen eigenen Helden, den Räuber und Wilddieb Peter, dem an der Hauptstraße ein Denkmal gesetzt ist. Ein zahmer Fuchs scharrte ihn aus der Gefangenschaft im Turm auf dem Molkenberg frei. Wilderer hat es in Orb immer gegeben. Chronist Schmidt- Polex, Sohn eines der „Jagdherren“, sah in ihnen „die reinen Vorboten des Bolschewismus“.

Inzwischen entsteht dem Bad am Spessart Konkurrenz in den Salzstädten Osteuropas. Bürgermeister Hugo Metzler warnt im Amtsblatt Anfang Mai: „Vor allem die westdeutschen Feriengebiete verlieren zunehmend an Attraktivität.“ Und wie, fragt das Blatt, sollen neue Gäste angezogen werden, „wenn schon Orber Spitzenfunktionäre die Qualität der Einrichtungen und Angebote als ,Misere‘ bezeichnen?“

Fitneß, Wellneß, Akupunktur, Raucherentwöhnung, von den Kassen anerkanntes Heilfasten, Bad Orber Vitalwochen zum Pauschalpreis, Sauerstofftherapie sollen ein neues, jüngeres Publikum erreichen. Aber noch steckt die Verjüngungskur in den Kinderschuhen. „Jugend und Kurort“, weiß Verena Vorberger, die selbst in einem Kurort aufgewachsen ist, „das ist immer ein Konfliktbereich.“ Orb biete, findet sie außerdem, „zu wenig für die Einheimischen.“ Die weichen in der Freizeit lieber in den Nachbarkurort Bad Soden-Salmünster aus: „Da ist das Publikum jünger.“

Bad Orb habe, beteuert eine langjährige Besucherin, „auch seine guten Seiten, die Landschaft, die Luft, die Ruhe zum Beispiel“. Die Sole hilft ihr, und die ärztliche Betreuung sei „vorbildlich“. Ansonsten kennt sie sich mittlerweile aus und hat „ihre Schliche“. Das Cafe Sprudel, „Strudel bei Sprudel“, am Salinenplatz mit lachsrosa Interieur, gehört nicht dazu. Der „Toast au four“ mit Ragout fin und Käse überbacken ist eine graue, matschige Reminiszenz an die 50er Jahre.

Einige Hotels haben sich aber auf „die neuen Alten“ eingestellt, bieten kleine Portionen, Salate, guten Service. Da würde sie auch gern einmal wohnen: „Aber das geht nicht.“ Seit über 20 Jahren mietet sie sich in derselben Pension ein: „Wenn ich im Hotel wohne, und die sähen mich in derStadt, wäre mir das peinlich.“