Soul, genau kalkuliert Soulmusik

■ Ray Charles im Weserstadion: Nur selten sprang der Funke zum weit entfernten Publikum über N

ach fünfzig Jahren Bühnenerfahrung kann Ray Charles seine Konzerte ablaufen lassen wie ein genau abgestimmtes Uhrwerk. Aber gerade weil alles so genau durchkalkuliert war, irritierte bei seinem Auftritt im Weserstadion dieser Widerspruch zwischen seiner immer noch vital und spontan wirkenden Musik und dem präzisen Kalkül der Präsentation. Auf die Minute genau eine Stunde lang stand Ray Charles auf der Bühne – sogar die Pausen für den Applaus waren auf die Sekunde hin berechnet. Forderungen nach einer Zugabe wurden dadurch abgewürgt, daß der Sänger, noch während seine Band die Coda spielte, in seiner schwarzen Limousine aus dem Stadion gefahren wurde.

Bei der Pressekonferenz vor dem Konzert erklärte Ray Charles, daß eine Mischung aus 65% bekannten Songs und 35% neuem Material sich als perfekte Mischung für seine Auftritte erwiesen hat. Und nach etwa 70% des Konzerts wurde mit dem Erscheinen der fünf Sängerinnen des Background-Chors pünktlich der Nachbrenner gezündet.

Nur die Veranstalter bewiesen bei diesem Konzert ein extrem schlechtes Timing. Ausgerechnet im Weserstadion mußte der schwarze Soulmusiker gegen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft antreten, und so waren nur knapp 4000 Plätze im Weserstadion besetzt. Diese waren zwar alle überdacht, dafür aber viel zu weit weg von der Bühne. Ray Charles' charakteristische Bühnenpräsenz mit den wilden Verrenkungen am Piano und dem großen, herzerwärmenden Lächeln wurde so zwangsläufig auf einen zappligen Punkt in der Ferne reduziert. Es gab zwar teure, aber keine guten Plätze. Aus der Westkurve sah man den riesigen, leeren Rest des Stadions und die etwa 50 Meter entfernte Bühne, die durch dieses Ambiente noch kleiner wirkte. Und so war man trotz des guten Sounds immer nur ein ferner Beobachter des fast wie in einem Vakuum ablaufenden Konzerts.

Um so erstaunlicher war, wie bewegend dann doch einige von Ray Charles Songs durch das Stadion schallten. „Georgia on My Mind“ spielte er viel langsamer und abgeklärter, als man es von der Originalaufnahme her kennt, und dadurch gab er dem Song einen Kick, der viel mehr auslöste als die bei solchen Hits übliche Wiedererkennungsfreude. „I Can't Stop Loving You“ wird dagegen immer eine kitschige Schnulze bleiben, und dementsprechend ließ Charles hier tüchtig seinen Chor aufheulen. Die Band spielte im klassisch-jazzigen Stil und zum Glück ohne die Zugeständnisse an modische Funksounds, die Charles' letzte Platten so zwiespältig ausfallen ließen. So war einer der Höhepunkte des Konzerts eine sehr sparsam orchestrierte und intime Ballade, bei der Ray Charles die Intensität, Kraft und Melancholie seiner Stimme fast pur wirken ließ. Willy Taub