Tanzt die Tagespolitik!

Tango satt (und zwar den echten, aus Argentinien!) bietet die Volksbühne ab heute abend im Prater. Mit dabei sind Antonio Agri, der Soloviolinist von Astor Piazolla, und Nestor Marconi, der Bandoneonspieler aus Solanas Film „Sur“  ■ Von Jörgo Riss

Die gelben Plakate des Tangofestivals Berlin kleben erst seit ein paar Tagen auf den grauen Häuserwänden der Innenstadt. Und die Orchester, die sie ankündigen, werden vielleicht nur Eingeweihte kennen. (Die dafür allerdings sicher auch bis nach Argentinien tanzen würden.) Dabei wäre das erstklassige Programm von Filmen, Vorträgen, Konzerten und kostenlosen Tanzworkshops für Anfänger, das heute in der Volksbühne im Prater beginnt, durchaus geeignet, jeden Technofreak innerhalb einer Woche in einen Tango-aficionado zu verwandeln.

So ist zum Beispiel das Quinteto Real, dessen Konzert das Festival eröffnet und das bis Sonntag in Berlin gastiert, ein Verein wahrer Tango-Großmeister: Angeführt vom 80jährigen Pianisten Horacio Salgán und dem Gitarristen Ubaldo de Lio spielen hier auch Antonio Agri, der über 20 Jahre lang der Soloviolinist von Astor Piazzolla war, und der hervorragende Nestor Marconi, bekannt als Bandoneonspieler aus Solanas Tangofilm „Sur“.

Salgán und de Lio treten seit mehr als 40 Jahren gemeinsam auf. Sie sind die alten, ehrwürdigen Herren des Tango, und ihre Musik strahlt den Glanz jener Epoche aus, in der der Tango in Argentinien noch ganz groß war: In den 40er und 50er Jahren lag Buenos Aires im Tangofieber, an Wochenenden tanzten dort über 30.000 Menschen bei Festen unter freiem Himmel. Tennisplätze und Baskettballfelder wurden damals kurzerhand in Tanzflächen umgewandelt, und die tangueros konnten sich vor Aufträgen kaum retten.

In den 60er Jahren, als das Interesse am Tango schwand, waren es dann vor allem Gastspiele in Japan, mit denen Musiker vom Kaliber des Quinteto Real ihr Geld verdienten und die es ihnen erlaubten, den traditionellen Tango zu erneuern und weiterzuentwickeln. Mittlerweile hat die Tangowelle auch Europa erreicht (in Berlin eröffnet augenblicklich Tangosalon nach Tangosalon) und ist von hier wieder nach Argentinien zurückgeschwappt. Aber die Popularität von einst erreicht der Tango in den Zeiten von MTV und Tower Records dort nicht mehr. Heute verkaufen sich die Schallplatten der Stars besser in Übersee als zu Hause.

Daß der Tango außerhalb Argentiniens immer mehr Liebhaber findet, freut den Tango-Privatgelehrten Bruno Cespi, der mit Vorträgen zu Geschichte und Poesie des Tangos um die Welt reist. Cespi ist ein pensionierter Lastwagenfahrer aus Buenos Aires und stolzer Besitzer der größten privaten Sammlung von Fotos, Partituren und Bildern zum Thema. Eine Auswahl davon wird während des Festivals im Foyer des Pratersaals gezeigt. Cespis Freude und Begeisterung für den Tango sind ansteckend – er ist ein echter Missionar.

In seiner Sammlung findet man neben vielen Fotos alter Orchester kuriose Partituren von Tangos, die zur Feier tagespolitischer Ereignisse komponiert wurden. Cespis Sammlung spiegelt die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse im Argentinien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Mosaikstücken wieder: Es gibt einen Tango anläßlich des ersten Fluges über den Rio de la Plata, ein anderer wurde zur Einweihung der U-Bahn in Buenos Aires geschrieben. Den Tango „606“ widmete der Komponist Sales de Araujo allen Apothekern als Dank für ein neues Medikament zur Behandlung der Syphilis, und seit 1913 können nicht nur die Mitglieder der sozialistischen Partei den „El Socialista“ tanzen.

Tango Festival in der Volksbühne im Prater, bis 5. 7., Kastanienallee 7–9, Prenzlauer Berg. Gartenfest Sa/So ab 13 Uhr, Ausstellung täglich ab 14 Uhr, Gratis-Tanzkurs für Anfänger ab Sa täglich 18.30 Uhr, Konzerte täglich 20 Uhr: Quinteto Real von heute bis Sonntag, Hernan Lugano am 1./2. 7., Oscar Bassil und Quinteto Pirincho von 3. bis 5. 7.