Dreißig Jahre Schmerz

Nach dem Aus im EM-Halbfinale gegen Deutschland hadern die Engländer mit dem Schicksal  ■ Aus London Peter Unfried

Am Tag danach war Trafalgar Square nicht in schönstem Glanze. Aufräumtrupps mußten anrücken, um den Platz im Zentrum Londons wieder touristenkompatibel zu machen. Bei Auseinandersetzungen zwischen enttäuschten Fußballfreunden und der Polizei waren in der Nacht zum Donnerstag zunächst Flaschen geflogen, dann wurde der Knüppel aus dem Sack geholt. Das vorläufige Ergebnis: Etwa 200 Festnahmen und 40 Verletzte.

Wieder verloren, wieder gegen die Deutschen, wie 1990 im Elfmeterschießen – und weit und breit kein Grund zu erkennen, warum. Der Frust suchte sich erst später einen Kanal: In Wembley selbst war zunächst nur Fassungslosigkeit gewesen. Auch beim englischen Team.

Die Engländer, glaubt Venables, hätten in der regulären Spielzeit gewinnen müssen. Ince dominierte das Mittelfeld, Gascoigne erwies sich als tadelloser Rackerer, Shearer war nicht nur beim 1:0 flinker und besser als Babbel. Es hätte reichen müssen. „Wir hatten danach zwei Chancen“, sagte Venables, „und dann wäre alles erledigt gewesen.“ Kurz vor der Pause köpfte Shearer minimal am Pfosten vorbei, dann kratzte Reuter Sheringhams Kopfball von der Linie. Und: Nach zwei Minuten der Verlängerung schoß Anderton nicht das Golden Goal, sondern an den Pfosten.

Es stimmt, daß Vogts vorsichtig reagieren ließ; doch auch Venables riskierte nicht viel. Vielleicht riskierte er auch zuviel. Die Engländer waren mehr gelaufen als die Deutschen, und in der Verlängerung waren sie müde. Doch der Trainer wechselte, im Gegensatz zu Vogts, nicht aus. So kam nach zehn verwandelten Elfmetern die Reihe an den Verteidiger Gareth Southgate. Erst kurz vor der EM war er ins Team gehüpft, seit Wochen war man voll des Lobes über den Innenverteidiger. „Jetzt“, sagt er, „wird das einzige, was die Leute an mich erinnern wird, der verschossene Elfmeter sein.“

„Es ist eine kollektive Sache“, sagte Stuart Pearce, der es wissen muß, zu dem unglücklichen Southgate. Aber das stimmt natürlich nur eingeschränkt. Statt eines Kollektivs von künftigen OBEs hat der englische Fußball nun nur noch ein weiteres Bündel unglücklicher Helden: Den Trainer Terry Venables, dessen umstrittene Geschäftspraktiken in diesen Tagen völlig in den Hintergrund des öffentlichen Bewußtseins gerutscht waren. Den Kapitän Tony Adams, einen resozialisierten Minimal- Fußballer, der als zweiter Bobby Moore auf Briefmarken gelandet wäre. Den Verteidiger Stuart Pearce, der wenig mehr ins Spiel zu bringen weiß als seinen patriotischen Einsatz, und der dank des verwandelten Elfmeters eine Extralegende geworden wäre. Und jetzt? „Der Elfmeter hat keine Bedeutung“, sagte Pearce, „wir sind ausgeschieden und am Ende des Tages kannst du nichts machen.“

„Thirty years of hurt“, sang inbrünstig Wembley, als noch alles auf ein Ende des Leidensweges hingedeutet hatte, „never stopped me dreaming.“ Sehr gut: Am Ende des Tages kommt wieder ein neuer Tag. Spätestens in dreißig Jahren.

England: Seaman - Southgate, Adams, Pearce - Platt, Ince - Anderton, Gascoigne, McManaman - Shearer, Sheringham

Zuschauer 75.862 Tore: 0:1 Shearer (3.), 1:1 Kuntz (16.)

Deutschland: Köpke - Sammer - Babbel - Reuter, Eilts, Helmer (110. Bode), Freund (119. Strunz), Ziege - Scholl (77. Häßler), Möller - Kuntz