Der Journalist und frühere taz-Kollege Tom Kuppinger ist tot. Er starb am Dienstag im Alter von 36 Jahren in Berlin. Die taz druckt deshalb diesen Text von ihm, der 1994 in der Zeitschrift "D.A.H. Aktuell" der Deutschen Aids-Hilfe erschiene

Ein etwas alberner, aber beliebter Mythos gleich vorneweg. Er könne, sagt Mick, 30, Berliner Taxifahrer und keineswegs ein Kondommuffel, jederzeit und auch in größter Geilheit noch, ja im Stockdunklen gar und blind spüren, „ob bei einem Fick ein Kondom dabei ist“. Aktiv wie passiv will er über solche sensiblen Nervenenden verfügen. Das Gefühl sei mit dann eben doch reduziert.

Sicherlich lustvoll für die wissenschaftlichen Probanden, aber dennoch reichlich überflüssig wäre die empirische Reihenuntersuchung für den Gegen- und damit Mythenbeweis, bei dem es nachzuweisen gälte, ob ein in Mikrometern meßbares Gummihäutchen inmitten eines an sich recht brachialen mechanischen und glibbrigen Stoßvorganges erspürt werden kann. Inmitten eines Aktes, der noch dazu bekannt dafür ist, die Sinne gleich reihenweise auszuknipsen. Aber solange eben dieser Beweis nicht erbracht wird, hält sich der Mythos vom genialen anal-phallischen Supertastsinn, den Tausende von Micks auf dieser Welt stolz für sich beanspruchen. Aktiv wie passiv.

Aidsland ist Mythenland. Am Anfang war der Affe, die grüne Meerkatze, der Haitianer. Je nachdem. Oder der teuflische CIA-Forscher, die Weltverschwörung. Dann die Ausbreitung: Mitte der achtziger Jahre vermochte der Stern gar in einem der damals modischen Apokalypse-Artikel die Airline und genaue Flugnummer jenes Jets zu benennen, in dem in menschlicher Hülle das Virus gen Europa reiste. Was, wenn er abgestürzt wäre?

Mythen sind klebrige, höchst resistente kleine Dichtungen, Mund- zu-Mund-Überlieferungen phantastischer oder irrationaler Sachverhalte. Eine Art geistige Viren.

Als das HI-Virus in die Welt kam, kam es sofort zu einer Art Mythenexplosion, rechts und links, schwul und hetero. Nach den Entstehungsmythen kamen die Schuldmythen, komischerweise oft identisch und doppelt aus extremsten gesellschaftlichen Ecken in gleicher Dummheit – wie im Fall des Schuld-und-Sühne-Mythos: Da sehen katholische und andere Saubermänner wieder den rächenden Herrgott an der sündigen schwulen Menschheit am Werke. Nur ein paar Häuserblocks weiter stritt man in liberalen Schwulenzentren ernsthaft und reuig darüber, ob Aids nicht die Quittung für die üblen sexuellen Sauereien der Szene sei. Und nur jeder zweite führte das Wort „Quittung“ dabei im aufgeklärten Sinne des 20. Jahrhunderts im Munde, empfahl also die Umkehr zur Monogamie allenfalls als eine mathematische, rationale Möglichkeit, das Virus zu meiden. Bei allzu vielen schwang die archaische moralische Seelenheilrettung im neuen Wunsch nach dem einen einzigen Partner, nach dem moralischen Fick mit Trauschein mit.

Kehret um!

Ein Mythos, zwei Lager. Das spiegelt sich im Aidszeitalter in Mark und Pfennig auf den Kontoauszügen der Psycho-Branche wider. Bis zum Exitus müssen manche Infizierte zum Seelenklempner, damit sie endlich aufhören zu glauben, ihr Virus sei ihre Strafe für ihr Schwulsein und ihr Rumvögeln. (Zur Erinnerung zwischendurch: Ein Virus ist ein klar beschreibbarer, rationaler Organismus, mehr nicht.)

Bei den Schuldmythen in Sachen Aids handelt es sich gleich um einen ganzen Mythenstrauß. Nächste Unterabteilung ist der Mythos von der selektiven Schuld, derzeit wieder aktuell in den Medien und im Volk: Babies, Bluter, Operierte – und je nach Sichtweise auch Freier-Ehefrauen, heißt es, seien unschuldige Opfer. Junkies, Knackis, Schwule dagegen schuldige Opfer. Selber schuld: Sie haben geschrien, ja, Virus, komm in meine Adern, töte mich! So soll man sich das vorstellen.

Das kategorische und politisch so richtige Nein zum Wort „Schuld“ hat aber durch die Hintertüre schon wieder ein Mythlein geboren: Allerlei Infizierte auch der allerneuesten Generation pflegen einen Opfermythos, der sich daraus speist, daß, wer nicht schuldig sei, folglich unschuldig ist, also jungfräulich rein und demnach unerklärliches Opfer mit absolutem Mitleids-, Unterwerfungs- und Verehrungsanspruch. Das Virus adelt. Das Gegenteil, der Unschuldsmythos liegt dicht bei der Jungfrau und damit beim urchristlichen Mythos der unbefleckten Empfängnis. Darf man sich wirklich so unschuldig fühlen, wenn man sich als 25jähriger 1991 in einem mit Kondomwerbung überstrahlten Land wie dem unseren das HIV herbeifickt und es kein abwegiger „Unfall“ wie etwa der äußerst seltene Kondomriß war?

Das führt geradewegs zum Mythos vom mündigen Bürger, der sogar die Väter und Mütter des Grundgesetzes leitete. Dieser wird in Sachen Aids von rechts immer gebraucht, wenn gespart wird. Beispielsweise an Zielgruppen-, Unterschichts-, Milieugruppenaufklärung. Dann ist auch der höchstsüchtige Junkie mündiger Bürger, soll sich selbst schützen, braucht keine Spritze vom Staat. Und weiter links, beispielsweise in den Bürokratien mancher Aids-Projekte, dient der gleiche Mythos als eine Art Oberentschuldigung dafür, warum man sich so schön mittelstandsorientiert in Yuppie-Projekten voll Jungakademikern für die Ewigkeit eingerichtet hat und nicht immer mehr so gerne die langweilige Primärprävention betreiben will.

Wir machen Angebote für den mündigen Bürger, sagen sie progressiv, der muß sie annehmen oder nicht, und sie sind fast sauer, weil der kleine Doofi ohne Coming-out (wat is'n dette?) aus dem brandenburgischen Dörfchen ihre so wunderbar konzipierte strukturelle und sekundäre und tertiäre Prävention nicht schnallt, nicht einmal kennt oder mit feinsinnigen Primärplakaten mit Berliner Schönlingen im Weichzeichnerlicht und zum Thema Fistfuck nicht auf sich überträgt.

Rechtlos zwar, aber immerhin sofort mündiger Bürger im Grundgesetzsinne ist dann auch der 17jährige Bubi aus Krakau oder Bukarest, wenn er erstmals als Frischfleisch in die Großstadt-Sub stolpert, nachdem er sich zwei Promille Mut angetrunken hat. Den ernennen wiederum all jene aufgeklärten, schwulen Herren zum mündigen Bürger, die ihm ihre gummilosen Schwänze reinschieben wollen. Schließlich hängt ja die Aids-Hilfe Plakate auf, muß er sich doch informieren... Der Mythos vom mündigen Bürger, ein Entschuldigungsmythos.

Gegenmythos und wesentlich schlimmer: der Mythos vom total unmündigen Bürger. Dieser Mythos inspirierte in Sachen Aids von Praunheim bis Gauweiler ebenfalls Leute in allen Lagern, vor allem in den USA: Die Menschen seien zu dumm zu allem, brauchten Führer, Verbieter, Lenker, Klappen zu, Darkrooms weg, Saunen auch, Wichsen unter Aufsicht und mit Regeln an der Wand – Virus besiegt.

Kommen wir zu den Mythen vom selektiven Virus. Zunächst der mittlerweile etwas verschwundene Aktiv-Passiv-Mythos: Aids kriegen nur die anal Passiven, sagten in den Achtzigern fröhliche Ficker, von denen manche deswegen nun leider heute Hilflosenpflegegeldbezieher sind. Dahinter steckte uraltes Männerdenken: Mein tolles, strammes 20 x 4-Teil ist unverletzlich, kriegt keine Risse, wohingegen das Loch... (Zumindest bei den Schwulen wäre es bei einem Siegeszug dieses Mythos zu katastrophalen Folgen gekommen: Wer hätte, wenn alle deshalb aktiv geworden wären, noch gefickt werden können – die Matratzen?) Auch die Party-Kids der Tekknoszene haben ihre coolen Legenden: Wer nur ordentlich jung, schön, stark und im richtigen spirit sei, also die korrekten vibrations habe, wie mir ein Tekknoboy unter viel Koks und XTC erklärte, der bekomme es nicht. Basta. Die öko-spiritistische linke Bourgeoisie hingegen pflegt den Esoterik- Mythos, dem zufolge ein ganzheitlich und giftfreies und harmonisches und bewußt ernährtes Leben und so Aids irgendwie verhindere, ja gar besiege.

Selektionsmythen als Selbstschutz kamen schon früh auf, hierzulande mindestens, seit Rosa von Praunheim im Spiegel wehklagte, er könne im uneinsichtigen Sündentreiben des schwulen Nachtlebens Positive schon an deren Blick und Aura ausmachen. Fairerweise muß hierzu festgehalten werden, daß Praunheim diesen besonderen mystischen Blick für die Kainsmale der Todgeweihten nicht als Präventionsinstrument propagierte, so nach dem Motto: Lerne die Gestrauchelten erkennen und schütze dich vor ihnen!

So etwa schützte sich der Typ am Bartresen, der mich jüngst gen Lichtenberg in seine Zweiraumwohnung abschleppen wollte – und mich seither wohl für saudumm hält. „Biste sauber?“ wollte er am Tresen noch schnell von mir wissen. Ich setzte meinen naivsten Blick auf und sagte mit Unschuldsmiene: „Ja, ich habe geduscht und Haare gewaschen.“ Er war zu verklemmt, um „Aids“ zu sagen, also stocherte er nach: „Nee, das mein' ich nicht, ich meine, äh, biste, ääh, sauber, im anderen Sinn, vasteeste, na, du weißt schon...?“ Empört hob ich den linken Arm und fauchte zurück: „Willste mal unter der Achsel riechen?“ und: „Bist du überhaupt selbst sauber?“ Klaro, meinte der Mann, schließlich sehe er sich die Typen ja immer vorher an, mit denen er ins Bett steige.

Andere schufen den Mythos vom gesunden Dicken. Will sagen: Nicht die Dicken (die Häßlichen, die Alten) leben gesund, sondern der, der mit ihnen fickt, weil die ja nicht soviel abgekriegt haben. Laß die Finger von den Schönen, die sind alle positiv. Und gewiefte Fernost-Bumstouristen fachsimpeln heute darüber, wie aidsverseucht und abgegrast Bangkok doch sei, besser fahre man da doch lieber in andere asiatische Metropolen. Ja, richtig, da kannste noch echt ohne Lümmeltüte, Kumpel, paradiesisch, natürlich, unberührt alles dort.

In Romanen und Lyrik, bildender und Bühnen-Kunst werden zum Thema Positive vor allem uralte Ladenhüter recycelt: Der vornehm blasse, schöne Todeseros aus dem letzten Fin de siècle ist wieder da. Aids inspiriert Uninspirierte zu romantischen Ficks mit dem Tod. Dostojewskisches Glücksspiel auf Leben und Tod hat in Literatur und Film Hochkonjunktur, russisches Roulette als allerletzte geilste Stimulanz geistert in Form des Ficks mit dem Positiven wieder durch französische Romane und Filme. Höhere und höchste fleischliche Leidenschaft im Angesicht des Todes oder – romantischer – ein solcher Fick als Symbol tiefster innerster Bande der Liebe. Geliebter, gib mir dein Virus als Faustpfand!

Oder der Griff in das Reservoir der schönen Künste des 19. Jahrhunderts: Die Kameliendame, die Schwindsucht, das Sich-selbst-Verzehren in Jugend und Schönheit auch noch an den Folgen der Liebe, Aidskitsch at its best. „Aids als Metapher“, wie es so schön in den Feuilletons heißt. Wo diese Floskel in den Künsten auftaucht, sind meist die Trittbrettfahrer und Mißbraucher der Krankheit nicht weit. Rechts wird die Sintflut beschworen, links sinniert man über Öko-Katastrophe, mit Aids haben wir endlich ein Menetekel fürs Ende der Menschheit, die Natur schlägt zurück, verschlingt ihren Frevler Mensch. Da läßt sich viel tiefsinnige Essayistik betreiben, viel schwere Symbolik mit schickem Touch der Aktualität in Performances und Installationen einbauen. Prima.

In Berlin bescherte „Aids als Metapher“ kurz vor Weihnachten Rechtsanwälten gar einen netten Zuverdienst. Ein Konzertkritiker des Stadtmagazins Tip war vom gnadenlosen, auslaugenden, schmutzigen Spiel der Rockgruppe „Die Mutter“ immerhin so mitgenommen, daß er die Musiker in seiner Kritik „vier HIV-Positive“ nannte, die bis zum Ende ihrer Kräfte alles aus sich herauslaugten, um dann nach Konzertende nur noch zu krepieren. Wie gut der Mann im Zeitjargon liegt! Er vergaß nur hinzuschreiben, daß es um „Aids als Metapher“ ging, daß sie spielten wie HIV-Positive. Die beleidigten Musiker schritten prompt zur Gegendarstellung, man begann herumzujuristen, die taz erhielt ein Interview mit den Opfern, also den Musikern, nicht den real Aidskranken, schließlich hätte ja ein neuer, nicht unbedingt geschäftsträchtiger Mythos entstehen können, nämlich der einer HIV-positiven Rockgruppe, bei der man aufs Krepieren warten muß. Was ja andererseits auch wieder ein gutes PR-Geschäft sein könnte...?