■ Radovan Karadžić wird vorläufig weiterpokern können
: Gerechtigkeit und Realpolitik

Srebrenica – das größte Verbrechen auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlangt Gerechtigkeit und Sühne. Keine Frage: Die Verantwortlichen für diesen Massenmord müssen vor Gericht gebracht und abgeurteilt werden. Die Namen der Angeklagten sind bekannt: Radovan Karadžić und Ratko Mladić. Das UN-Tribunal in Den Haag hat gestern mit der Beweisaufnahme gegen die beiden begonnen. Das ist begrüßenswert. Aber der Gerechtigkeit spricht Hohn, daß beide noch frei herumlaufen und politische Macht ausüben. Bis jetzt haben sie die Welt zum Narren gehalten mit ihren Possen über Rücktritt und Entmachtung. Daß sie dies überhaupt können, hat etwas mit Realpolitik zu tun, mit Realpolitik in des Wortes schlimmer Bedeutung.

Sicherlich verfügt die Nato respektive die Ifor über die militärische Macht, die Gesuchten zu verhaften. Aber die Konsequenzen eines solchen Schrittes sind schwer abzuwägen. Nicht nur, daß es bei der Gefangennahme ein Gemetzel geben würde, bei dem auch Ifor-Soldaten ihren Kopf hinhalten müßten. Es ist vielmehr zu befürchten, daß die kleinen und großen Mitläufer und Täter unter den bosnischen Serben den Krieg wieder vom Zaume brechen würden und Rache nähmen – nicht nur an Ifor-Soldaten, sondern an der Zivilbevölkerung. Von daher macht es realpolitisch durchaus Sinn, statt dessen den Druck auf Serbiens Präsidenten Milosević zu erhöhen, damit er Karadžić und Mladić an die Kandarre nimmt. Nur wird damit der Bock zum Gärtner gemacht. Milosević kann seine einstigen Busenfreunde nicht einfach nach Den Haag überstellen. Sie könnten nämlich ausplaudern, inwieweit er selbst in den Krieg und die Grausamkeiten verwickelt ist. Und die internationale Gemeinschaft kann Milosević nicht zu sehr unter Druck setzen. Sie braucht den serbischen Präsidenten, um das Dayton- Abkommen nicht gleich auf den Müll zu werfen und damit auch ihr Scheitern eingestehen zu müssen.

Karadžić wird sein Katz-und-Maus-Spiel weitertreiben können. Daran wird auch ein internationaler Haftbefehl nicht viel ändern. Solange die Kriegsverbrecher sich auf die realpolitischen Überlegungen des Westens verlassen können, bleibt nicht nur die Gerechtigkeit auf der Strecke. Die ethnische Teilung Bosniens wird zementiert. Auch das ist Realpolitik – im schlimmsten Sinne des Wortes. Georg Baltissen