Das Elend von Srebrenica, Massenerschießung, Vertreibung, Mord. Seit gestern hört in Den Haag das internationale Kriegsverbrecher- tribunal Zeugen, um die Schuld des Serbenführers Radovan Karadzic und seines Militärchefs Ratko Mladic zu bew

Das Elend

von Srebrenica,

Massenerschießung, Vertreibung, Mord. Seit gestern hört in Den Haag das internationale Kriegsverbrecher-

tribunal Zeugen, um die Schuld des Serbenführers Radovan Karadžić und seines Militärchefs

Ratko Mladić

zu beweisen.

Die Angeklagten lassen grüßen

Bosniens Serbenführer Radovan Karadžić liebt das Spiel auf Zeit. Der gewiefte Taktiker findet immer wieder einen neuen Schachzug, einen neuen Spielertrick, um die internationale Staatengemeinschaft bloßzustellen und sich als uneingeschränkter Herrscher zu präsentieren.

So begann gestern die Beweisaufnahme gegen Karadžić und dessen militärischen Oberkommandierenden Ratko Mladić vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag mit einem Eklat: 35 Minuten vor Prozeßbeginn überreichte ein sogenannter „Abgesandter des Präsidenten“, der Belgrader Staranwalt Igor Pantelić, dem Gericht eine persönliche Erklärung von Karadžić, in dem dieser dem Tribunal „Einseitigkeit“ und eine „juristisch zweifelhafte Argumentation“ vorwarf.

Obwohl die Richter keine andere Argumentation erwarten konnten, waren sie über das Auftreten Pantelićs offenbar überrascht. Nach kurzer Beratung wurde dem serbischen Anwalt der Eintritt in den Gerichtssaal gewährt. Für eine halbe Stunde durfte Pantelić den freigehaltenen Sitz der Verteidigung einnehmen. Er wurde gebeten, eine Verteidigungsrede zu halten, was jedoch nicht geschah. Pantelić verwies lediglich auf Paragraph 61 des Tribunalstatuts, nach dem keinem mutmaßlichen Kriegsverbrecher in Abwesenheit der Prozeß gemacht werden dürfe – auch eine Beweisaufnahme falle unter diesen Paragraphen. Außerdem habe das Gericht nach internationaler Rechtsprechung die Pflicht, der Verteidigung Akteneinsicht noch vor der Beweisaufnahme zu gewähren. – Der Ankläger sah es anders: In seiner Antwort ging der Kläger sogar einen Schritt weiter und forderte das Gericht auf, aufgrund der Anwesenheit von Pantelić nun doch den Prozeß gegen Karadžić zu eröffnen. Denn wenn dieser im Auftrag seiner Mandanten nach Den Haag reisen konnte, so hätten sich auch Karadžić und Mladić dieser Reise anschließen können.

Die Anklage hielt außerdem fest, daß mit der Entsendung des Belgrader Anwalts die Serbenführer die Legitimität des internationalen Gerichtshof anerkannt hätten und so einem Prozeß nichts mehr im Wege stehe.

Beim Anklagepunkt Srebrenica wurde detailliert das Vorrücken der bosnisch-serbischen Truppen auf die ehemalige UNO-Schutzzone im Juli 1995 beschrieben, der Ablauf chronologisch dargestellt, die Massenerschießungen von Frauen und Kindern ausführlich dokumentiert.

Auch über die Massenhinrichtungen bosnisch-moslemischer Kämpfer wurde detailliert gesprochen und bei allen Anklagepunkten darauf hingewiesen, daß Karadžić und Mladić die Fäden bei diesen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und dem „Völkermord an Zivilisten“ aus dem Hintergrund gezogen hätten. Karadžić und Mladić hätten die Befehle erteilt, die Logistik ausgearbeitet und den Massenmord planmäßig organisiert. Und doch fehlte eine entscheidende Zusatzinformation: Der Waffennachschub, logistische Ausrüstung und personelle Verstärkung kamen aus dem Mutterland Serbien – auf Anordnung von Slobodan Milosević und dessen militärischem Oberbefehlshaber General Momcilo Perisić. All das ist bereits in der Belgrader Presse nachzulesen. Nach den kritischen Zeitungen Nasa Borba und Vreme sollen serbische Zeugen bereit sein, nicht nur gegen Karadžić, sondern auch gegen Milosević und seine Kriegsstrategen auszusagen – ein Angebot, worauf Den Haag bisher geflissentlich nicht reagierte.

Erst am Mittag fällte das Gericht seine Entscheidung, nach der in den kommenden Wochen nur eine Beweisaufnahme erfolgen soll, jedoch kein Prozeß. Pantelić werde nicht als Verteidiger anerkannt, er dürfe jedoch als einer der fünfzig internationalen Beobachter auf der Zuschauertribüne Platz nehmen und das Gerichtsgeschehen von dort aus weiter verfolgen – aus serbischer Sicht ein kleiner Erfolg. Denn jede Verunsicherung kommt Karadžić gelegen und bringt die internationale Staatengemeinschaft in Zugzwang.

Anders als bei den Prozessen in Nürnberg gegen die Nazigrößen des Dritten Reiches, stehen Karadžić und Mladić auf Seiten der Sieger. Ihr oberster Kriegsstratege, Serbiens Präsident Slobodan Milosević, wird von den US-Amerikanern und Europäern schon längst wieder als Garant einer dauerhaften Nachkriegsordnung im ehemaligen Jugoslawien akzeptiert, ohne den eine Befriedung Südosteuropas nicht möglich sei.

Dieser Logik hat sich – allen Beteuerungen zum Trotz – auch das Kriegsverbrechertribunal der UNO in Den Haag angeschlossen. Karl Gersuny