Urlaubstage in Neukölln

Megastaus, verkackte Strände, laute Hotels, fiese Kellner: alles geschenkt! Eine Anleitung zum Hierbleiben  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen (nach Diktat verreist)

Wie man es auch wendet: Es gibt keinen vernünftigen Grund für sinnloses Herumstreifen in der Welt. Und kommen Sie mir nicht mit Erholung und „Das sind doch die schönsten Wochen des Jahres“!. Langes Warten auf Charterflüge, unerwartete Zwischenlandungen, unfreundliche Kellner, hingeschluderte Pizzen, abgewrackte laute Hotelzimmer, verkackte Strände, aufdringliche Papagalli – was ist daran Genuß?

Nein, ich bleibe in Neukölln und freue mich auf die Wochen, wenn sich meine Berliner Mitbürger rund um das Mittelmeer, immer nahe am Nervenzusammenbruch, „vergnügen“. Während sie gehetzt und erschöpft von einem Kunstschatz zum anderen eilen, von einem Geheimtip zum nächsten, verweile ich an einem sonnigen Morgen im Columbiabad (Wasserqualität gut). Gelassen blättere ich nach dem Schwimmtraining in Reiseführern und opulent aufbereiteten Bildbänden und frühstücke auf der fast menschenleeren Terrasse (ein großer Becher Kaffee und Salamibrötchen für 5 DM).

Schließlich, was gibt es Schöneres, als nach einer durchzechten Nacht während des Sonnenaufgangs am Maybachufer mit der Liebsten spazierenzugehen? Wo sonst hat die Sonne dieses Licht und diese Kraft wie hier am Landwehrkanal? Und wo sonst als auf dem Friedhof – zwischen U-Bahnhof Leinestraße und dem Flughafen Tempelhof gelegen – läßt sich ein vergleichbarer Sonnenuntergang erleben? Propellermaschinen tauchen vom Treptower Park kommend wie etwas zu laute Silberfische ins weichgezeichnete Tempelhofer Feld ein, vorbei an romantisch blinkenden Positionsleuchten, knappe siebzehn Meter über die Köpfe der hinter Gräbern picknickenden und kiffenden Hippiegruppen und nur noch zehn Meter über die Pennercliquen hinweg, unter denen die Gorbatschowflaschen kreisen.

Schon lange habe ich den Glauben an den bildungsbürgerlichen Unsinn „Reisen bildet“, „Reisen ist der Garant für Offenheit, Toleranz und Aufgeschlossenheit der Menschen“ verloren. Wäre dem wirklich so, dann müßte Neukölln für all die klugen, toleranten und aufgeschlossenen Menschen aus dem bürgerlichen Charlottenburg, Wilmersdorf, Zehlendorf und Steglitz längst Pflichtprogramm sein. Statt dessen Naserümpfen und ein mitleidiges „Ah ja“, wenn unsereins seinen Wohnbezirk nennt. Dabei sollen diese Kulturreisenden mir im südlichen Halbkreis von 3.000 Kilometern einen Ort nennen, der den Touristen die kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt meines geliebten Heimatkiezes bietet.

Welches Land in den letzten Jahren auch mein Ziel war, ob Italien, Österreich, Marokko, Irland, Polen, die Türkei, Griechenland, Kroatien, selbst Frankreich, Tschechien, Slowenien oder Spanien, allemal bin ich dort auf mehr Ethnozentrismus gestoßen als vor der Haustür.

Ein Verdacht wurde zur Gewißheit. Wir Deutschen sind aus drei Gründen Weltmeister in Sachen Reisen: Die eine Fraktion macht sich auf, weil sie in den meisten Mittelmeerstaaten – um nur ein Beispiel zu nennen – eine „Ursprünglichkeit der Einheimischen“, sprich: eine religiöse und ethnische Homogenität antrifft, deren Verlust sie in Deutschland so nachhaltig beklagt. Unter diesen Eindrücken hocken sie später dann zusammen: „Die Griechen machen das schon richtig. Im Sommer kommen ein paar Millionen Touristen, lassen ihr Geld da, gehen wieder. Aber bei uns? Die ganze Welt kommt und bleibt, und wir dürfen für die zahlen.“

Die andere Fraktion reist als Sammler. Leidenschaftlich tauchen sie in fremde Kulturen ein, marschieren auch in den letzten Winkel Südamerikas und Asiens ein. Permanent sind sie auf der Suche nach Authentischem, ethnischen Typologien (die sind so fotogen), Volkscharakteren, Mentalitäten und Ursprünglichkeiten. Stets bereit, das ganzheitliche aufregende Leben in einem kleinen Fischerdorf, einer Bergsiedlung, einer Wüstenstadt zu entdecken, zu lieben und zu erhöhen. Auch diese Reisenden hocken später zusammen und reflektieren. Gemeinsam wird dann das kalte Leben in Deutschland beschworen, das engstirnige, das durchorganisierte, das so wenig Möglichkeiten für Spontaneität bietet, so wenige Prüfungen bereithält, „wirklich echte Schicksalsschläge“ fatalistisch hinzunehmen, dieses Land, das so wenig Chancen bietet, „echte existentielle Grenzerfahrungen“ zu machen. Einig sind sie sich schließlich in der Einschätzung: Besser als hier ist es auf alle Fälle woanders. Einzig die Bequemlichkeit des sozialen Netzes kettet sie (noch) an dieses Land.

Die dritte Gruppe reist wie ich, um sicherzugehen, eigentlich nichts zu versäumen, wenn sie daheim geblieben wäre. Ein um das andere Mal vergewissern wir uns, daß es zu Hause doch am buntesten ist. Denn nur der, der vier Wochen lang auf einer griechischen Insel griechischen Bauernsalat (plus Souvlaki und Juwetsi) essen mußte, in Marokko scheppernder und monotoner Volksmusik ausgesetzt war oder in Anatolien quälend lange Tage keine Alternative zu den lauwarmen Schnellküchen fand, weiß die mühelosen kulinarischen und kulturellen Crossovers bundesdeutscher Großstädte zu würdigen.

Einzig deshalb werde ich mich in diesem Jahr wohl oder übel wieder der Mühsal einer Reise unterwerfen, obgleich wissend, daß ich die kosmopolitische Atmosphäre Neuköllns schon binnen Tagen schmerzlich vermissen werde.

Denn nur in Neukölln kann ich als willkommener Gast am Freitagsgebet in der Moschee am Columbiadamm teilnehmen, mich anschließend in der chinesischen Garküche um die Ecke stärken, dann beim Jugoslawen – der sich auch heute noch als solcher versteht – auf ein billiges Glas Frascati und ein Schwätzchen vorbeischauen, um mich am frühen Abend mit meiner ethnisch homogenen deutschen, aber dennoch freien Keglerassoziation in der Herrfurthstraße zu treffen und anschließend die Nacht bei Ahmed im „Jacques“ am Maybachufer (Geheimtip!) mit einem Saufgelage langsam ausklingen zu lassen. An geschäftigen und eiligen Tagen tut's auch ein Einkaufsbummel bei Aldi in der Schierker Straße. Da schließe ich die Augen, höre das babylonische Sprachengewirr und weiß: Zu Hause bleiben bildet.

Aber was erwartet mich in Spanien? TapasSiestaTapasSiestaTapas ... und Bildungsbürger aus Zehlendorf, die unter sengender Sonne durch die Alhambra stapfen und sich darüber informieren wollen: Wie war das eigentlich mit dem Islam in Europa?