Ohne den Ursprung zu denken beginnen

Von der Kunst, Begriffe zu erfinden – das letzte gemeinsame Buch des im November letzten Jahres verstorbenen Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytikers Félix Guattari stellt die Frage: „Was ist Philosophie?“  ■ Von Friedrich Balke

Könnte es sein, daß die Philosophen die allermeiste Zeit nicht gewußt haben, was sie tun? Ist es ein Zufall, daß sie sich lieber noch dem selbstquälerischen Räsonnement über das Existenzrecht der Philosophie in unserer dürftigen Zeit verschreiben als die Frage zu beantworten, was denn die philosophische Aktivität überhaupt ausmache? „Wozu noch Philosophie“, fragte Adorno in einem berühmten Aufsatz von 1962. Daß er das Fragezeichen zu setzen „vergaß“, sagt freilich mehr über den Tenor des Textes aus als die grundstürzende Titelformulierung.

Ein Blick in die Philosophiegeschichte lehrt, daß es nicht eben wenige Definitionen gibt, die das „Wesen“ der Philosophie zu fassen vorgeben. Aber geben diese Definitionen eine Idee von dem, was Philosophen tun und womit sie es tun? Oder überspringen sie nicht vielmehr die philosophische Aktivität, um sie an einem ihr übergeordneten, transzendenten Maßstab zu messen? „Philosophie als strenge Wissenschaft“ lautet zum Beispiel eine vielzitierte Formel Edmund Husserls.

Keine Wesensfragen

Die Frage „Was ist Philosophie?“ wird von Deleuze und Guattari nicht aus einer essentialistischen Perspektive gestellt, so als gelte es, am Himmel der Ideen ihre Urform zu entdecken. Wenn Deleuze und Guattari ihre Gleichsetzung mit der Wissenschaft ebenso wie mit der Kunst abwehren, dann nicht, um vermeintlich „wesensfremde“ Bestimmungen durch die Freilegung der eigentlich philosophischen Essenz zu ersetzen. Die Philosophie ist kein Reservat eines „eigentlicheren“ oder „ursprünglicheren“ Denkens, sie unterhält vielmehr mannigfaltige Beziehungen zu den Wissenschaften und den Künsten; sie ist zu solchen Beziehungen allerdings nur dann fähig, wenn sie etwas anderes ist als Wissenschaft und Kunst.

Nicht streng, wie Husserl, sondern fast spielerisch werfen Deleuze/Guattari ihre Frage auf, um auf diese Weise gleich alle puristischen Mißverständnisse abzuwehren: „Was war es denn nun, was ich während meines ganzen Lebens gemacht habe?“ Nun, so lautet eine erste Antwort, ich habe mit Begriffen hantiert, und zwar auf eine Weise, daß ich sie, selbst, wenn es sich dabei um bereits kanonisierte Begriffe der Philosophiegeschichte handelte, umwandelte, sie neuschuf. Was also ist Philosophie? „Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen.“ Wohlgemerkt: Die Philosophie ist etwas anderes als Kunst. Aber die Schaffung von Begriffen ist an eine bestimmte Fähigkeit zum Experimentieren gebunden, wie sie der Kunst eigen ist. Die Philosophie ist eine Kunst, weil ihre Begriffe nicht lediglich die Welt der Gegenstände mit Hilfe einer bestimmten begrifflichen Notation repräsentieren, sondern weil sie „den Dingen und Handlungen einen neuen Zuschnitt verpassen“.

Die Systeme der Philosophie, die sich im Laufe der Geschichte ausgebildet haben, sind eifrig darum bemüht, all jene Spuren zu tilgen, die Rückschlüsse auf die „Würfelwürfe“ zuließen, denen sie sich verdanken. Es gibt durchaus einen „Boden“ der Philosophie, aber dieser Boden ist löchrig und der Zusammenhang, die Konsistenz der Begriffe, die er stiftet, ist niemals logischer Art. Die Philosophen haben nicht aufgehört, erste Ursachen und Prinzipien zu erfinden, die alles weitere bereits keimhaft enthalten sollen. Kaum haben sie begonnen, sind sie „im Prinzip“ bereits fertig. Wenn sie dennoch nicht aus lauter Langeweile mit dem langwierigen Geschäft des Entfaltens der Anfangsgründe aufhören, dann deshalb, weil sich zwischen Prämissen und Konklusionen etwas ereignet, was die Innerlichkeitsform des Systems sprengt.

Die Philosophen in der Mitte nehmen, lautet seit je eine der grundlegenden Maximen deleuzianischer Lektüre. Alles Wesentliche ereignet sich dazwischen, in den Abständen zwischen den Begriffen und innerhalb der Begriffe. Denn die logische Homogenität der Systeme ist ebenso vorgetäuscht wie die referentielle Einheit des Begriffs, beide sind Vielheiten, die heterogene Glieder umfassen und unterschiedlichste Beziehungen zwischen ihnen stiften.

An den Empiristen bewundert Deleuze, daß sie das Privileg des Seins in der Philosophiegeschichte gebrochen und die Konjunktionen und Relationen freigesetzt haben, die den Gliedern, die sie verbinden, strikt äußerlich sind. Ein radikaler Assoziationismus, der die Einheit der Dinge und Wörter aufbricht, ist auch der Schlüssel zu „Was ist Philosophie?“ Es gibt nichts Einfaches, noch die kleinsten Einheiten sind Verkettungen heterogener Elemente. So gibt es auch keine einfachen Begriffe, stets verfügen sie über mehrere Komponenten (das cartesianische Ich etwa besitzt deren drei: Zweifeln, Denken, Sein), die sich zu fragmentarischen Ganzheiten zusammenfügen. Zwischen den Komponenten eines Begriffs bestehen Übergänge und „Brücken“, niemals jedoch analytische oder notwendige Beziehungen.

Wandernde Wüsten

Nur vor diesem Hintergrund kann man verstehen, warum für Deleuze/Guattari alle Philosophie Geophilosophie ist. Insofern nämlich, als die ausgebildeten Philosophen Verkettungen von Verkettungen sind und daher die Existenz eines irreduziblen Territoriums voraussetzen, eines Außen, das von keinem Prinzip und keiner bloß logischen Notwendigkeit absorbierbar ist. Geophilosophie – eine zweifellos riskante Begriffsschöpfung, die die Autoren vermutlich gerade in Deutschland weiteren absehbaren Mißverständnissen aussetzen wird. Aber der „Boden“ der Philosophie hat nichts mit dem Raum der Geopolitik zu tun, es handelt sich um eine „mentale Landschaft“, eine „wandernde Wüste“, auf der sich Begriffe verteilen und ungeahnte Konstellationen bilden.

Die Erfindung von Begriffen allein kann die Philosophie nicht vor ihrer größten Versuchung bewahren: Die Aufrichtung neuer Vertikalitäten, die entweder die Gestalt von Quasireligionen bzeziehungsweise Weisheitslehren oder die nicht minder gefährliche „Form der Wissenschaft“ (Hegel) annehmen können. Denken ist etwas anderes als urteilen, es kommt ohne den Blick nach oben aus, sein Element ist allein die Immanenz: „Das Denken beansprucht ,nur‘ die Bewegung, die bis ins Unendliche getrieben werden kann.“ Philosophieren ist vor allem keine Funktion des Wahr-Sagens, es unterzieht vielmehr den Wahrheitswert derselben Kritik wie alle Werte, die es verstanden haben, die Philosophie zu kommandieren. Denn wahre Gedanken sind „immer noch Gedanken, die mit herrschenden Bedeutungen oder etablierten Losungen konform gehen, es sind immer noch Gedanken, die etwas bestätigen, auch wenn dieses Etwas erst noch kommt, auch wenn es die Zukunft der Revolution ist“.

Die Philosophen müssen die größte Anstrengung darauf verwenden, den Kontakt zum Nicht- Philosophischen aufrechtzuerhalten, von dem Deleuze/Guattari sagen, daß es „vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie [ist] als die Philosophie selbst“; denn groß ist die Versuchung der Begriffe, sich die Immanenz einzuverleiben (Platons Idee, Descartes' cogito, Kants Bewußtsein, Hegels Geist, Heideggers Sein ...). „Die Immanenz kann man für den glühenden Probierstein jeder Philosophie halten“, weil sie überhaupt kein möglicher Gegenstand eines Begriffs ist, sondern die unendliche Fläche eines neuen Himmels, reines indefinites Sein, ein „Tanzboden“ (Nietzsche) für die göttlichen Zufälle des Denkens. Selbst die Erfindung der Philosophie bei den Griechen weist alle Züge eines solchen göttlichen Zufalls auf, eines glücklichen Zusammentreffens der Immanenzebene des Denkens mit dem Milieu einer weitgehend deterritorialisierten griechischen Gesellschaft, die sich abseits der großen Imperien entwickelte.

Begriffe erfinden

Die Philosophie konnte nur in Griechenland entstehen, weil sie, wie schon Nietzsche wußte, „nicht aus natürlichem heimischen Boden gewachsen ist“. Die Geophilosophie verwechselt niemals Immanenzebene des Denkens mit einem bestimmten soziopolitischen Territorium; anders als Hegel und Heidegger denkt sie das Verhältnis zwischen Griechenland und der Philosophie nicht als Ursprung und damit als „Ausgangspunkt einer dem Abendland inhärenten Geschichte“. Statt den Raum zu ihrem Prinzip zu machen und damit die Logik der Ersten Philosophie fortzuschreiben, führt die Geophilosophie den Zwischenraum, den Abstand, die Differenz und damit eine gewisse Leere in einen Diskurs ein, der sich fugenlos zu präsentieren sucht.

„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu“, läßt Nietzsche Zarathustra sagen. Um ihr treu bleiben zu können, muß man sie jedoch erst einmal gewinnen. Der billige Spott über die theologischen Hinterwelten täuscht über die Schwierigkeit dieser Aufgabe hinweg, die uns abverlangt, den Sturz der alten Prinzipien nicht durch die Beschwörung eines neuen, eigentlicheren, anfänglicheren Anfangs zu ersetzen. Die Erde, die Nietzsche und die Deleuze/Guattari meinen, ist nicht die symmetrische Negation des alten Himmels. Die Erde ist nichts Präexistentes, auf dem sich der Philosoph niederlassen könnte: Wie er die Begriffe erfinden muß, so muß er die Ebene errichten. Darin bestehen die beiden philosophischen Tätigkeiten.

Und in dieser Hinsicht können wir durchaus von den Griechen lernen, die wenig auf ihre „autochthone Bildung“ gaben und „alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich einsogen“, wie Nietzsche feststellt. Die Griechen sind Erfinder, nicht Anfänger der Philosophie. Das „griechische Wunder“, die Geburt der Philosophie fand statt, weil die Griechen im Verhältnis zur Weisheit der sie umgebenden Völker die Position von Nicht-Weisen einnahmen, die sich mit feiner Ironie „Freunde der Weisheit“, eben Philosophen nannten; die Wunder in der Philosophie, so läßt sich daraus folgern, können sich nur ereignen, wenn wir den Philosophien gegenüber die Position von Nicht-Philosophen einnehmen, die einzig der Immanenzebene, dem „absoluten Boden der Philosophie“ verpflichtet sind und nicht den imposanten Gebäuden, die im Laufe der Geschichte auf ihm errichtet wurden.

Was ist das Erstaunlichste an dem Buch von Deleuze und Guattari? Es zeigt, daß wir bislang noch gar nicht über Begriffe verfügten, um die Frage „Was ist Philosophie?“ zu beantworten. Auch die hierzu nötigen Begriffe mußten erst erfunden werden. Denn man antwortet auf die Frage nicht, indem man die platonische, cartesianische, kantische oder irgendeine andere Philosophie, und sei es auch die eigene, referiert; und man antwortet ebenfalls nicht auf sie, indem man die Geschichte prominenter philosophischer Begriffe erzählt. Es ist das größte Verdienst von Deleuze und Guattari, daß sie eine Sprache bereitstellen, die es erstmals erlaubt, den philosophischen Prozeß sichtbar zu machen, der in seinen Produkten immer schon stillgelegt ist. Daß das keine bloß theoretisch zu würdigende Leistung ist, kann jeder erfahren, der sich der „wandernden Wüste“ dieses Buches anvertraut und der nicht vor dem „Taumel der Immanenz“ zurückschreckt, in die es seine Leser versetzt.

Gilles Deleuze, Félix Guattari: „Was ist Philosophie?“ Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Suhrkamp Verlag, 262 Seiten, geb., 48 DM

Soeben von Friedrich Balke (mit Joseph Vogl) erschienen: „Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie“, Wilhelm Fink Verlag