Bessere Zeiten, aber wie?

 ■ Ein Plädoyer wider das Aussitzen Von Ulrich Mückenberger

Die Gewerkschaften haben sich auf diesem Terrain ins gesellschaftliche Abseits bewegt. Die Orientierung am (kürzer werdenden) Normalarbeitstag hat an allen Fronten Niederlagen eingebracht: gegenüber Unternehmen in der Flexibilisierungsfrage (Nacht-, Schicht- und Wochenendarbeit, Entkoppelung von Arbeits- und Betriebszeiten), gegenüber Beschäftigten (Gleitzeit, Teilzeit). Weitere Niederlagen stehen ins Haus. 63 Prozent der Deutschen begrüßen eine Lockerung des Ladenschlußgesetzes. CDU-, SPD- und Grünen-Anhänger weichen nur unwesentlich von diesem Schnitt ab. Es ist (im doppelten Sinne) eine Frage der Zeit, bis auch hier die Front gegen zu „rigide“ Zeitmuster siegen wird. Fragt sich nur, wie. Zum Aussitzen haben Gewerkschaften keine Zeit – sonst wird sich das (berechtigte) öffentliche Anliegen nach mehr Zeitsouve-ränität vor den Schaltern und Ladentheken mit dem (zweifelhaften) Deregulierungsdenken vereinen und zu Rasenmäherlösungen zusammentun.

Dimensionen von Arbeitszeitregeln

Wie fast jede arbeitsbezogene Regulierung werden Arbeitszeitregelungen nach drei Kriterien beurteilt, die in ihrem Zusammenwirken zur Akzeptierbarkeit der Regelung beitragen. Unter ökonomischen Gesichtspunkten danach, ob sie zu Effizienz und Produktivität beitragen oder nicht. Unter sozialen Gesichtspunkten werden sie beurteilt, ob sie Beschäftigten und ihrem sozialen Umfeld (Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis usw.) Gelegenheit lassen, Erwerbsarbeit in vorhersehbarer Weise mit anderen Lebensbedürfnissen abzustimmen. Unter gesellschaftlichem Aspekt – und dieser interessiert hier – werden sie danach beurteilt, ob sie „externe Effekte“ (Externalitäten) aufweisen, die außerhalb des Betriebes anfallen und die Gesellschaft betreffen, insbesondere ob es sich bei ihnen um negative externe Effekte handelt, die minimiert oder ganz ausgeschlossen werden sollten. (...)

Während das Effizienzkriterium recht wirksam von Unternehmen oder Dienststellenleitung, das Sozialkriterium von Arbeitnehmern und Gewerkschaften artikuliert wird, sorgen für das gesellschaftliche Kriterium – wenn überhaupt – nur relativ diffuse Akteure: Öffentlichkeit, Medien o.ä. Arbeitszeitkonzepte haben heute aber nur eine Chance gesellschaftlicher Durchsetzung, wenn sie auch diesem dritten Kriterium gerecht werden. Eine zukunftsweisende Arbeitszeitpolitik – auch im öffentlichen Dienst und dort gerade in den Bereichen, die heute unter Privatisierungschancen beäugt werden, muß auch den Optionen Dritter gerecht werden. Sonst werden deren Beschäftigte und Gewerkschaften als egoistischer Interessenverband wahrgenommen und marginalisieren sich damit auf Dauer selbst. Gewerkschaften können zwar nicht immer gleichzeitig auch die Interessen der Gesellschaft mit formulieren und durchsetzen. Aber sie müssen sich zu letzteren verständig und verständigungsorientiert verhalten. Sonst bleibt ihre Arbeitszeitpolitik unbegründbar und wird sich bei den Menschen – in der Mitgliedschaft, der potentiellen Mitgliedschaft und in der Gesellschaft – alsbald verschleißen. (...)

Neue Sozialpakte

Allenthalben ist dabei die Frage, was von diesen Problemen und Gestaltungsfeldern Gegenstand originärer gewerkschaftlicher Politik sein kann. Ein interessanter Ansatz zum Weiterdenken ist in einem Politikdokument enthalten, das in der Stadt mit der längsten Erfahrung auf dem Gebiet von „tempi della città“ (Zeiten der Stadt) entstand: der „patto per la mobilità“ (Mobilitätspakt) in Modena in der Emilia Romagna vom Mai 1994. Das Dokument ist aus zwei zweitägigen „Runden Tischen“ hervorgegangen und wurde von 30 Personen unterzeichnet (darunter Vertreter der Gebietskörperschaften, der Industrie und der drei Gewerkschaftsbünde, der Verkehrsbetriebe und Taxifahrer, der Verbraucherkooperativen usw.). Ansatzpunkt ist hier die Flüssigkeit und Umweltverträglichkeit der Fortbewegung; angestrebt wird die Zurückdrängung des Individualverkehrs zugunsten des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) und des Fuß-/Radwegs. (...)

Auch wenn die einzelnen Maßnahmen nicht unbedingt originell anmuten und es für die meisten Einzelbeispiele in anderen europäischen Städten gibt, so ist das Papier jedoch in der Gesamtheit beeindruckend. Besonders interessant ist die vielgestaltige – „zivilgesellschaftliche“ – Trägerschaft des Modellversuchs und die Beteiligung der Gewerkschaften an dieser zivilgesellschaftlichen Konzertation.

Es spricht einiges dafür, daß diese Art gewerkschaftlicher Politik und diese neuartige Form des „Sozialpaktes“ – so groß die mit ihnen verbundenen Ungewißheiten heute noch sind – Zukunft haben. Sie bieten vielleicht auch eine Alternative zu der verbissenen Art, mit der heute bei uns die Ladenschlußdebatte geführt wird. „Deregulierer“ und „Besitzstandswahrer“ blockieren sich wechselseitig, indem sie wichtige gesellschaftliche Anliegen den partikularen Interessen ihrer jeweiligen Klientel opfern. Das kann aber doch wohl – sozialgeschichtlich – nicht das letzte Wort gewesen sein.

Gekürzter Nachdruck aus: Mitbestimmung 4/5 1996