Übervater des Theaters

Gesichter der Großstadt: Ivan Nagel, Theaterkritiker, Intendant und Hochschullehrer, wurde 65. „Man schuldet es anderen, das Beste zu bieten“  ■ Von Miriam Hoffmeyer

In einem kleinen, von Büchern überwucherten Fach hütet Ivan Nagel einen großen Schatz. Zwei Schreibmaschinenseiten. Sie sind über vierzig Jahre alt, glatt und fleckenlos. Herr Nagel, steht da zu lesen, sei „ein ungemein feiner, zurückhaltender und ernster Mensch“, sein Promotionsvorhaben über Hegel lasse Großes erwarten. Das Gutachten stammt von Theodor W. Adorno.

Die Dissertation hat Nagel dann doch nicht geschrieben. Aber noch das scharfsinnige Büchlein über „Autonomie und Gnade“ in Mozarts Opern, das er mit über 50 Jahren verfaßte, folgt in seiner dialektischen Denkweise, der geschliffenen Diktion unverkennbar dem Übervater Adorno.

Heute ist Ivan Nagel selbst ein Übervater – des deutschen Theaters. Sein folgenreichstes Gutachten schrieb er 1990 über die Berliner Theater nach der Vereinigung. Frank Castorfs Berufung und die Erfolgsgeschichte der Volksbühne, aber auch das desaströse Vier-Intendanten-Modell am Berliner Ensemble gehen auf seine Vorschläge zurück. Schon lange hat ihn keine Berliner Inszenierung mehr begeistert. Ivan Nagel wünscht sich Staatstheater, die mit derselben Besessenheit wie Off- Theater an einer Aufführung arbeiten.

Jetzt, meint er, könne vielleicht endlich der Generationswechsel an den deutschen Theatern gelingen, nachdem die alte Garde der großen Regisseure – Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann – 25 Jahre lang unangefochten geherrscht hat. Von jungen Regisseuren erhofft sich Nagel eine Rückkehr zu den großen Themen: Liebe, Schmerz, Tod. „Gerade in den Scheinwelten unserer Zeit ist Theater wichtig: ,Der Geizige‘ handelt eben nicht von Besserverdienenden, sondern von reich und arm.“

Am vergangenen Freitag ist Ivan Nagel 65 Jahre alt geworden. Auf dem Gabentisch liegen Geschenke für einen, der schon alles hat: Champagner, CDs, Konfitüren, Bücher in deutscher und ungarischer Sprache. Die Feier war ausgiebig, zum Interview muß der Jubilar aus dem Bett geklingelt werden. Seiner Geistesgegenwart kann das nichts anhaben.

Binnen kurzem präsentiert er sich in Hose, Hemd und Strickjacke und räumt behende volle Aschenbecher beiseite. Ivan Nagel teilt seine weitläufige Wohnung mit etwa 8.000 Mitbewohnern. Im größten Zimmer sind die Bücher alle vier Wände hochgekrabbelt. In matter brauner Pracht grüßen die prächtigsten Exemplare aus einer Vitrine: Hogarths Stiche, Illustrationen zu Youngs „Nachtgedanken“. Das Resultat von sechs Jahrzehnten Bibliomanie.

„Ich bin nicht preziosenverrückt“, betont Nagel. „Ich kaufe alte Bücher nur, wenn es keine modernen Ausgaben von ihnen gibt.“ Und doch wirkt der ziemlich kleine Mann mit den schwermütigen, wachen Augen am glücklichsten, wenn er seine schönen Besitztümer zeigen kann: die grotesken Drucke von Goya, den idyllischen Garten mitten im Zentrum Berlins.

Auch wenn Nagel gar nicht raucht, spielen seine Hände unaufhörlich mit Zigarette und Feuerzeug. Nachdem der morgendliche Raucherhusten überstanden ist, beginnt er mit leiser, kultivierter Stimme zu erzählen. Ivan Nagel wurde in Budapest geboren. Die deutsch-jüdischen Eltern besaßen eine Textilfabrik, die drei Kinder wuchsen zweisprachig auf. Ivan lernte mit viereinhalb Jahren lesen, spielte Klavier und wurde auf ein renommiertes Gymnasium geschickt, das vor allem deutschsprachige Kinder besuchten. Eine Schule, an der der Turnlehrer die jüdischen Kinder zwang, antisemitische Lieder mitzusingen. „Mein Bruder und ich wurden immer als Juden beschimpft und verprügelt“, erzählt Nagel und lächelt schief. Diese Zeit hat er nie überwunden. Als Siebenjähriger spürte er zum erstenmal die Gefahr, als er sah, wie seine Eltern voller Angst die Radionachrichten verfolgten. Österreich war „angeschlossen“. Nazideutschland lag direkt hinter der Grenze.

Das Jahr zwischen dem Einmarsch der Deutschen und der Befreiung durch die sowjetischen Truppen verbrachte der 13jährige Junge im Kinderheim, unter falschem Namen, mit gefälschten Papieren. „Das ist ein unerhörter Druck, wenn man weiß, man ist in Lebensgefahr, wenn man seinen Namen nennt. Ein falscher Name bedeutet, daß es einen eigentlich gar nicht geben dürfte.“

Die Allheilmittel gegen Angst, Kummer und Zurückweisungen waren Literatur und Musik. Ivan verschlang die großen Werke der Weltliteratur. Sein Held wurde Julien Sorel, der ehrgeizige Aufsteiger aus Stendhals „Rot und Schwarz“.

„Wenn man ständig zu einer Minderheit gehört – erst als Jude, dann als Kapitalistenkind, dann als Homosexueller – muß man sich an sich selbst halten.“ Mit 17 Jahren verließ er noch vor seiner Familie Ungarn, kurz bevor die stalinistischen Schauprozesse begannen. Ivan Nagel machte in Zürich Abitur.

„Irgendwie war es natürlich pervers, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen“, sagt er. Aber er wollte bei Adorno Philosophie studieren. 1955 verhinderten Adorno und Carlo Schmid die Abschiebung des staatenlosen Studenten.

Drei Jahre später begann eine fast reibungslose Karriere: Erst war er Theaterkritiker in Stuttgart, dann Chefdramaturg in München, später Kritiker der Süddeutschen Zeitung und dann Intendant in Hamburg. Zwischen 1971 und 1979 holte Ivan Nagel Regisseure wie Peymann und Luc Bond an das Hamburger Schauspielhaus, spielte Kroetz, Strauß und Walser und gründete das Festival „Theater der Welt“.

Wegen Etatüberschreitungen und „Linkslastigkeit“ wurde er immer wieder heftig angegriffen, trotzdem sind die Hamburger Jahre im Rückblick die schönsten für ihn. Noch einmal wurde er Kritiker (für die FAZ in New York), noch einmal Intendant beim Württembergischen Staatsschauspiel. Seit 1987 lehrt Nagel Theatergeschichte und Ästhetik an der Hochschule der Künste.

„Nach zehn Jahren Intendanz hätte ich nichts Neues mehr schaffen können“, sagt er. „Für mich ist es ein Alptraum, nur aus Routine weiterzumachen.“ Heute interessiert er sich vor allem für Kunst, er arbeitet an seinem zweiten kunsthistorischen Werk, einem Buch über den Revolutionsmaler Jacques Louis David.

Der begabte, ehrgeizige Junge Ivan steht an der Schwelle zum Alter. Vielleicht hat er sich gar nicht so sehr verändert. „Ich wollte nie etwas machen, worin ich nur zweit- oder drittklassig hätte sein können. Man schuldet es den anderen, ihnen das Beste zu bieten, was man sich erarbeiten kann“, sagt Ivan Nagel. Und fügt sehr leise hinzu: „Wozu soll man sonst leben?“