Der Segen der unteren Hälfte

■ Nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden von Boris Becker steigen die Chancen des Alexander Radulescu

Wimbledon (taz) – Boris Becker ist gegangen. Am Samstag hat er noch eine eigene Pressekonferenz einberufen. Da sah er erleichtert aus, nachdem sich der Schmerz im rechten Handgelenk, der ihn am Freitag zur Aufgabe gezwungen hatte, als Bänderverletzung herausgestellt hat. Der Ärger aber ist groß. „Ich war sehr gut in Form“, sagte er, „und die Auslosung sah auch nicht schlecht aus.“

Michael Stich ist noch da. Und ärgert sich auch. „Die sollten wirklich darüber nachdenken, wie sie setzen“, hat er nach dem 6:3, 4:6, 6:2, 6:3 gegen Sandon Stolle gesagt. In der oberen Hälfte drängeln sich die Serve-and-Volley-Spezialisten. „Das ist traurig“, sagt Stich, „und für das Turnier nicht gut.“

Für die, die unten sind, schon. Dort ist Becker raus, die hochgesetzten Grundlinienspezialisten sowieso. Übrig ist mit Todd Martin nur noch ein Gesetzter. Und dort ist auch Alexander Radulescu (21). Der kam vor sieben Jahren aus Bukarest nach Deutschland und spielt für den Rochusclub Düsseldorf in der Bundesliga. Es handelt sich um sein erstes Grand-Slam-Turnier. Dreimal hat er in fünf Sätzen gewonnen, am Samstag 6:7, 6:4, 6:4, 4:6, 6:3 gegen David Wheaton in einem Hochgeschwindigkeitsspiel. Radulescu ist ein Mann fürs Gras, er führt im Moment die Liste der geschlagenen Asse mit 91 an.

Alex Radulescu war einer jener Spieler, deren Versuch sich hochzuarbeiten durch Dauerverletzungen behindert wurde. Erst war es ein entzündeter Mittelfußknochen, später das Knie. Das kann Pech sein. Oder daran liegen, wie (wenig) professionell und wissenschaftlich einer trainiert, der kaum Geld hat und mehr oder wenig auf sich allein gestellt ist. Vor einem Jahr traf er, ziemlich entmutigt von den Rückschlägen, einen Arzt, der ihm einen Weg zeigte. Radulescu hat sich per Fitneßprogramm eine andere, durchtrainiertere Muskulatur zugelegt, inbesondere in den Beinen. Er arbeitet nicht nur mit dem vormaligen Dreekmann-Trainer Ulf Fischer, sondern auch regelmäßig mit einer Physiotherapeutin. Seit sechs, sieben Monaten ist er gesund, seither gehört er zu den Aufsteigern der Branche. Sein Weg führte ihn von Platz 280 in die Top 100.

Als er nach Wimbledon kam, sagte DTB-Trainer Niki Pilic, er könne – obschon keinem Kader angehörend – im Deutschen Haus essen und sich massieren lassen. Das war, sagt er, „sehr nett“. Jetzt hat er für das Erreichen des Achtelfinales 27.475 Pfund verdient, jetzt wird, zumindest vorübergehend, manches einfacher. „Jetzt“, sagt er, „brauche ich nicht mehr soviel an das Geld zu denken.“ Es reicht zu wissen: Gewinnt er heute gegen den Südafrikaner Neville Godwin, hat es sich schon wieder fast verdoppelt. pu