Gary Glitter hat vor Schreck geweint

Jurassic Rock für eine gute Sache: Mädchen um die 18 und 50jährige Männer wollten im Londoner Hydepark die Reunion von The Who erleben. Mit dabei: Bob Dylan, Eric Clapton und Alanis Morissette  ■ Aus London Ralf Sotscheck und Karl Wegmann

George hat unglaublich schlechte Zähne. Man sieht die gelben Ruinen jedesmal, wenn er lacht. Und er lacht viel, denn er hat mit seinen Freunden Terry und Robert die Zeit zurückgedreht. „Beim letzten Rockkonzert im Hydepark, als Queen vor 20 Jahren spielten, waren wir dabei“, sagt George, „und jetzt sind wir wieder hier, weil The Who spielen.“

Die drei sind Anfang 50. In seinem dezent gemusterten Pullover und den gebügelten dunkelgrauen Cordhosen könnten George und ebenso Terry als Beamte auf Urlaub durchgehen. Robert dagegen sieht man den Späthippie an. Mit grauer Strähnenfrisur und dünnem Bart erinnert er an George Best nach einer Sauftour. „Wir arbeiten in völlig unterschiedlichen Bereichen“, sagt Terry, ohne es zu präzisieren, „und wir sehen uns nur noch selten. Aber als ich die Ankündigung für das Konzert las, habe ich die beiden sofort angerufen.“ Das Spektakel lockte am Samstag 150.000 Menschen in den Park.

Für den Fußballfan ist das Grün des Londoner Wembley-Stadions ein geheiligter Ort, für Rock'n'Roller und Hippies ist es der Rasen des Hydeparks. Unter den legendären Freiluft-Rockkonzerten, die dort veranstaltet worden sind, hat vor allem der Auftritt der Rolling Stones am 5. Juli 1969 – zwei Tage nach dem Tod von Brian Jones – dem Londoner Park höhere Weihen eingebracht. Zum Gedenken des toten Musikers stiegen 2.000 weiße Schmetterlinge auf, die trotz des sommerlichen Wetters hinter der Bühne mit Heizlüftern warmgehalten werden mußten. Mick Jagger las aus Shelleys Gedicht „Adonais“, die Stones rockten in Hochform. Eine Viertelmillion Menschen waren live dabei, das Konzert wurde rund um den Globus vom Fernsehen ausgestrahlt, und der Hydepark war fortan Pilgerstätte der Blumenkinder. Nach dem Konzert gingen damals viele zur Royal Albert Hall am anderen Ende des Parks, wo The Who mit Chuck Berry auftraten.

Vorgestern, zum 17. Freiluftkonzert im Park, gab es eine Weltpremiere: Zum erstenmal führten The Who ihre Rockoper „Quadrophenia“ live auf. Eigentlich gibt es die Band schon seit sieben Jahren nicht mehr, aber der inzwischen 50jährige Pete Townshend hat seinen Schwur gebrochen, nie wieder mit seinen früheren Kollegen aufzutreten. „Quadrophenia“ schrieb der Gitarrist vor 23 Jahren. Es ist eine Geschichte aus der jugendlichen Subkultur im England der frühen Sixties: Der Junge Jimmi ist ein Mod. Die Mods waren eine Bewegung gegen die Teds der fünfziger Jahre. Sie legten Wert auf einen gepflegten Haarschnitt, kauten Gummi, schluckten Wachhaltepillen, um nächtelang zu Ska, Bluebeat und Soulmusik tanzen zu können, und erkoren Motorroller der italienischen Marke Vespa zu ihrem Lieblingsfortbewegungsmittel.

Jimmi liefert sich regelmäßig Straßenschlachten mit den Teds, himmelt den Anführer seiner Clique als Idol an, erkennt aber nach vielen Enttäuschungen, daß dessen Heldentum nur eine brüchige Fassade ist. Auf die Aktualität seiner Rockoper angesprochen, sagte Townshend: „Es ist hochaktuell: Es handelt von einem jungen Mann, der versucht, durch die verdammt schwierigen Teenagerjahre zu kommen. Das ist es doch, worum es im Pop immer geht.“

Für den roten Faden zwischen den Stücken sorgen die Erläuterungen von Phil Daniels, der den Jimmi in der Verfilmung von 1980 gespielt hatte. Diesmal hat Roger Daltrey, 52, die Rolle übernommen, doch der Who-Sänger muß eine riesige Augenklappe tragen, weil ihm Gary Glitter – er war am Samstag der quadrophenische „Godfather“ – bei den Proben einen Mikrofonständer versehentlich um die Ohren gehauen hat. Glitter, 52, sei vor Schreck in Tränen ausgebrochen, heißt es. Who- Bassist John Entwistle, 51, dirigiert das Ensemble von 20 Musikern. Für den verstorbenen Keith Moon sitzt Zak Starkey, der Sohn von Ringo Starr hinter den Drums. „Er spielt wie sein Vater“, meint George, „nicht besonders virtuos, aber sehr zuverlässig.“

Offenbar hat Moon, der an seinem Alkoholismus gestorben ist, immer noch viele Anhänger im Hydepark: Überall liegen Schnapsleichen herum, nur selten zieht eine Marihuanawolke durch den Park. Das Publikum, die meisten sind weiß und Mitte 40, hat Campingstühle, Wolldecken und Kühltaschen voller Getränke mitgebracht. Manche haben auch ihre Enkelkinder dabei, aber die sind nicht wegen der Altrocker da, sondern wegen einer Sängerin, die noch gar nicht geboren war, als The Who die Charts anführten: Alanis Morissette aus Kanada eröffnet das Konzert, das Pete Townshend dem britischen Thronfolger gewidmet hat, „weil er immer so traurig und down aussieht“. Prinz Charles ist am Sonntag ebenfalls im Park, denn der Erlös – die Tickets kosten nur acht Pfund – kommt seiner Stiftung „The Prince's Trust“ zugute.

Die Wohltätigkeitsorganisation für junge Leute finanziert unter anderem auch eine Rock School, und acht Absolventen treten nach Alanis Morissette als „Prince's Trust Rock School Band“ auf. Sie fangen ausgerechnet mit „Pinball Wizard“ von The Who an. Gar nicht schlecht, meint die 18jährige Lisa aus Tolworth südlich von London: „Allemal besser als Bob Dylan mit seiner Band, der kein einziges seiner bekannten Lieder gespielt hat.“ Claire, ihre Freundin, sagt jedoch, es sei gut gewesen, die Altrocker mal gesehen zu haben: „Es sind ja irgendwie Legenden, und allzu lange wird es sie wohl nicht mehr geben.“ Das glauben auch die britischen Sonntagszeitungen. Sowohl seriöse Blätter wie der Observer, als auch Boulevardzeitungen wie der Sunday Mirror begannen ihre Artikel gestern fast wortgleich: „Hydepark wurde zum Jurassic-Park, als die Rock-Dinosaurier zum größten Konzert der letzten Zeit zusammenkamen.“

Zu den Dinosauriern zählt auch Eric Clapton, der mit seiner Band am Samstag den Abschluß bildet. Als er mit „Layla“ anfängt, hat er das Publikum schon auf seiner Seite. Weitere Klassiker wie „I shot the Sheriff“ folgen. Clapton spielt außergewöhnlich lange. Plötzlich ruft einer: „Clapton ist ein Arschloch!“ Dann wendet er sich an die Umstehenden und fragt: „Habe ich jetzt ein Sakrileg begangen? Ihr wißt es vielleicht noch nicht: Clapton ist nicht Gott.“ Er zieht aus der Manteltasche eine Flasche Wodka, die er trotz der Taschenkontrollen durchgeschmuggelt hat, und nimmt einen großen Schluck.