Eine Ginger ohne Fred

In einem der letzten Moskauer Pionierpaläste bringt Vera Iwanowna ihren SchülerInnen umsonst das Tanzen bei. Der Drill läuft ganz wie in alten Zeiten. Doch die will die 73jährige nicht zurück  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Im heißen Gewühl der Marktstände an der Moskauer Metro Tuschino zwischen dicken Weibern, die T-Shirts feilbieten, und rotgesichtigen dagestanischen Teppichhändlerinnen, sitzen zwei blasse, vornehme ältere Russinnen auf niedrigen Schemelchen. Auf einer Tischdecke sind Litzen und Bänder, sowie gehäkelte Krägelchen ausgebreitet. „Miß ihm für das Geld ruhig zwei Meter mehr ab, bei Litze unterschätzen Männer immer den Bedarf!“ sagt Vera Iwanowna zu Anna Alexejewna, als sich endlich ein Kunde einfindet.

Bei ihrem offensichtlichen Ungeschick zum Feilschen reicht der Erlös am Abend für die beiden Frauen nur zu zwei Portionen Sahneeis. Und sie schwören sich, diese Aktion nicht zu wiederholen. Wer an diesem Tage gerade kein Geld dabei hat und dennoch Sehnsucht nach ihrem Putz und Tand verspürt, dem geben sie die Adresse ihrer eigentlichen Wirkungsstätte: Pionierpalast Krasnaja Presnja.

Seit 1991 gibt es die jungen Pioniere als quasi staatliche Organisation in Rußland nicht mehr. Die meisten Pionierpaläste, in denen früher auch Kinder armer Familien unentgeldlich bastelten, auf Musikinstrumenten spielten oder fotografierten, sind inzwischen privatisiert und beherbergen teure Fitneßklubs, Kasinos oder Supermärkte. Hier hingegen, auf diesem Moskauer Montmartre namens Krasnaja Presnja, einer hübschen alten Adelsvilla mit hohen Fenstern und Flügeltüren, gibt es weiter Kurse für Kinder und Jugendliche. Vera Iwanowna bläut im Spiegelsaal ihren ElevInnen diverse Tänze ein.

Die 73jährige ist Turniertänzerin und Tanzlehrerin aus Leidenschaft. Sie trat auch mit Volkstanzgruppen auf, als Solistin, im Fernsehen, in Varietés und als weiblicher Conférencier. Ein paar Jahre lang unterrichtete sie sogar künftigen DiplomatInnen des Kreml. Zu den diversen Kursen im Pionierpalast kommen Kinder, Teenager und gelegentlich sogar Erwachsene. Dafür brauchen sie – ganz entgegen dem Geist der neuen russischen Zeit – keinen Rubel zu bezahlen. Mehr noch: Seit Vera Iwanowna 1982 die Seelenfreundschaft mit der in allen Handarbeiten versierten Anna Alexejewna schloß, werden die SchülerInnen von den beiden Pensionärinnen auch umsonst mit Kostümen ausgestattet. Das Rohmaterial dafür beziehen die Damen unter anderem von der Versorgungsorganisation für Varietés.

Alles blitzt nur so vor Pailletten, rüscht sich und zipfelt kokett. Da trägt ein milchzahnloses Zwillingsmädchenpaar mit dünnen Rattenzöpfchen stolz gewaltige Stoffchrysanthemen im Haar. Die kleinen Jungen zwängen sich in Schärpen und Westchen. Die Kleinen werden hier unerbittlich herausgeputzt wie die Pfingstochsen und führen ihre Tänze vor wie Paradepferdchen. „Was sind das nur für unkonzentrierte Kinder“, schimpfte Vera Iwanowna nervös. „Du willst mir wohl das Bild verderben!“ zischt sie einen kleinen Jungen an und schubst ihn auf die Zuschauerbank.

„Die Kinder von heute sind die Herrschaften von morgen“, erläutert sie ihr Erziehungsprinzip: „Es schadet keinem kleinen Jungen, wenn er einen Frack zu tragen und eine Schleife zu binden versteht. Ich habe sogar einen Vierjährigen dazu gebracht, elegant eine Partnerin einzulanden, ihr nach dem Tanz gebührend Reverenz zu erweisen und sich dann auf die richtige Seite neben sie zu setzen.“ Nur allzu verständlich, daß die Jungen in diesem Kurs in der Minderzahl sind. Die Mädchen hingegen kommen aus ganz Moskau, schmücken sich begeistert und tanzen hingebungsvoll das gesamte Reservoir der Gesellschaftstänze.

„Das Elementare bei einem Mädchen ist doch die Weiblichkeit“, kommentiert Vera Iwanowna. Und dann demonstriert sie ihre eigene Weiblichkeit und Jugendlichkeit, indem sie mit „Igorchen“, einem Jungtanzlehrer, einen Tango hinlegt. Igorchen scheint die Situation als riskant zu empfinden und bleibt bierernst. Vera Iwanowna strengt sich an, um bei dem rabiaten Tanz mitzuhalten. Diszipliniert lächelt sie unter ihrem weißen Pagenkopf – eine Ginger ohne Fred.

Anna Alexejewna zeigt weniger Ambitionen und hält sich meist im Hintergrund. Nach eigenen Worten verfügt sie „über fünfzig Jahre pädagogischer Erfahrung“. Ursprünglich war sie Russisch- und Literaturlehrerin und 25 Jahre lang Konrektorin. In dieser Eigenschaft mußte sie auch diverse Freizeitzirkel im Sommerpionierlager der SchülerInnen überwachen. Daraus wurde dann Zusehen und Mitmachen bei allerlei Handarbeiten – vom Klöppeln bis Makramee.

Im Pionierlager lernten sich die beiden Frauen 1982 kennen. Es folgte eine Zeit der fröhlichen Pläne und großen Inspirationen. „Jeden Nachmittag tranken wir Tee zusammen“, berichtet Anna Alexejewna: „Natürlich war der Tisch bescheiden gedeckt. Aber dann kamen uns immer die tollsten Ideen. Das Lager befand sich in einem märchenhaften, großen Wald am Fluß Istra. Wir und die Kinder kochten dort für den ganzen Winter Pilze und Beeren ein. Es gab dort Haustiere und Hühner für die Kinder. Wir haben noch die 30- Jahrfeier des Lagers erlebt. Jetzt ist es schon seit drei Jahren liquidiert. Das Territorium und die Gebäude wurden privatisiert. Die neuen Inhaber herrschen wie die Zaren. Ja, und die Kinder können sich keine Sommerreisen mehr leisten. Ich sage Ihnen ganz offen“, bricht es aus Anna Alexejewna heraus, „daß ich die Kommunisten gewählt habe. Vielleicht hat es ja damals viel Schlechtes gegeben, aber wir wußten schließlich nichts davon.“

Anna Alexejewna hat offenbar gelernt, über vieles hinwegzusehen. Das Glück der Kinder verlor sie nie aus dem Auge. „Gearbeitet haben ich von früh bis spät“, berichtet sie, „für unser Land und die Menschen, ohne nach Gewinn zu fragen.“ Auch beim zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen will Anna Alexejewna wieder für die alten Werte stimmen – für Gennadij Sjuganow.

Daß sie zumindest im eigenen Palast die Alltagskultur der sechziger und siebziger Jahre in die neuen Zeiten hinüberretten, ist für die beiden Künstlerinnen eine Quelle der Zufriedenheit. „Zu mir sind viele Kinder und Jugendliche gekommen, die keine Kindheit gehabt hatten, die im eigenen Elternhaus so Schreckliches erleben mußten, daß sie schon als Teenager lebensmüde waren.

Beim Tanzen haben sie wieder gelernt sich zu freuen. Manche haben mir versichert, daß ich sie vor einem Schicksal als Kriminelle bewahrt habe“, sagt Vera Iwanowna. Und dann fährt sie fort: „Der Tanz, das ist Kraft und Freude, er stabilisiert den Kreislauf und die Atmung.

Ich bin mir meines Alters nicht bewußt und war niemals krank. Heute früh habe ich eine Stulle mit Schokoladenbutter gegessen und seither nichts. Wenn du lebst wie ich, kommst du gewöhnlich erst gegen elf Uhr abends nach Hause. Und was grinst dich in der Küche an? Eine Ölsardine! Hast du auf sowas etwa Lust? Das ist wie mit den chinesischen Rikschafahrern. Die sind doppelt so stark wie alle anderen Chinesen, obwohl sie nur ein winziges Schälchen Reis am Tag essen.“

Und die skurrile Marktaktion in Tuschino? Haben die beiden materiell so uneigennützigen Frauen sie vielleicht doch um des eigenen Geldbeutels willen veranstaltet? Oder wollen sie damit die Unkosten für ihre Kurse wieder hereinbekommen? Die beiden werden ganz rot und drucksen herum. „Nein“, gesteht Vera Iwanowna: „Wenn etwas dabei herumgekommen wäre, hätten wir das Geld gut selbst gebrauchen können. Anna Alexejewna arbeitet ja völlig ehrenamtlich.

Ich bekam bis vor kurzem 200.000 Rubel Rente (rund 65 Mark), und hier im Klub verdiene ich nur ein wenig mehr. Mein Mann ist pensionierter Fliegermajor und leidet zunehmend unter seinen Kriegsverletzungen. Er braucht Medikamente. Dann lebt noch meine Tochter mit unserem behinderten Enkel bei mir. Damals lag mein Mann im Krankenhaus, und ich hatte schon alles gute Geschirr und das bißchen Schmuck beim Pfandleiher verloren.“ Anna Iwanowna zeigt auf ihre Ohrringe: „Nur dieses Paar ist mir geblieben. Ein bißchen Schmuck gehört nun einmal zum gelungenen Auftritt.“

Kürzlich wurde Vera Iwanownas Rente um ein Drittel erhöht. Trotzdem wird sie mit ihrer Freundin schon bald wieder auf den Markt in Tuschino ziehen müssen. „Diesmal fädeln wir alles geschickter ein“, verspricht sie zuversichtlich und erzählt leicht scherzend: „Mein Mann und ich haben als Veteranen am 9. Mai, dem Siegesfeiertag, sogar ein Gratulationsschreiben vom Präsidenten erhalten.“ Für Präsident Jelzin werde sie im bevorstehenden zweiten Wahlgang denn auch stimmen, meint die Tänzerin.

Im ersten Wahlgang hatte sie sich übrigens für General Lebed entschieden. „Man muß einfach noch das zweite Mal wählen“, räsonniert sie: „Und wen, wenn nicht Jelzin. Schließlich haben wir jeden Tag unser Brot zu essen. Außerdem kommt es uns so vor, als ob dieser Präsident schon etwas gelernt hätte.“ Am meisten fürchtet sich Vera Iwanowna davor, daß mit Gennadij Sjuganow der „Rote Satan“ übers Land käme, wie sie den Bürgerkrieg bezeichnet.

Im übrigen erinnert sie sich noch gut, daß es in der Sowjetunion auch nicht mit allem zum besten stand: „Die wollten mir den Parteiausweis wegnehmen, weil ich lateinamerikanische Tänze unterrichtete“, empört sie sich. Ich habe dann heimlich weiter Rumba- und Samba-Turniere veranstaltet, im Viehzuchtpavillon der Ausstellung der Errungenschaften unserer Volkswirtschaft. Nicht, daß es dort schlecht gerochen hätte. Ich hatte mir einen sauberen Saal erobert. Nur die Dekorationen waren – eben viehzuchtmäßig.“