Revolutions-Theater verwirrt Mexiko

Spektakulärer Auftritt einer vermummten „Revolutionären Volksarmee“ bei einer Gedenkveranstaltung für ermordete Bauern verschärft die Spannung im mexikanischen Süden  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Hufschmid

Mexiko hat neben der regulären Bundes- und der weniger regulären Zapatistenarmee jetzt offenbar noch ein weiteres Heer. Rund 100 schwerbewaffnete und vermummte Männer und Frauen tauchten am Freitag nachmittag überraschend im Bundesstaat Guerrero bei einer Gedenkveranstaltung für siebzehn Bauern auf, die vor genau einem Jahr von Polizisten aus einem Hinterhalt erschossen worden waren, und stellten sich als Mitglieder einer „Revolutionären Volksarmee“ (EPR) vor. Im Laufschritt und mit Gewehr im Anschlag marschierten die Vermummten aus den Bergen zum Veranstaltungsort nahe des Forts von Aguas Blancas, wo das Massaker stattgefunden hatte, und verlasen einer völlig überrumpelten Zuhörerschaft ihr „Manifest von Aguas Blancas“, das „angesichts der institutionalisierten Gewalt“ für den bewaffneten Kampf „als legitimes und notwendiges Mittel des Volkes“ eintritt. In einer Sprache, die mehr an die 70er Jahre als an Subcomandante Marcos erinnert, rufen sie zum „Sturz der antidemokratischen Regierung“, zum „Aufbau einer demokratischen Volksrepublik“ sowie zur Schaffung von „Volkstribunalen für die Feinde des Volkes“ auf.

Obwohl die Veranstalter der Gedenkkundgebung gegenüber der Presse beteuerten, vom plötzlichen Auftauchen der Truppe „keine Ahnung“ gehabt zu haben, schlug die anfängliche Verwirrung schnell in langanhaltenden Applaus um. Rund fünfhundert Mitglieder der ERP seien in ganz Guerrero verteilt, teilte ein junger Vermummter auf Nachfrage mit, „in Kürze“ werde man ein weiteres Kommuniqué präsentieren. Nachdem sie zum Abschluß ihres knapp zwanzigminütigen Auftritts noch siebzehn Gewehrsalven „zu Ehren der Gefallenen“ abfeuerten, verschwanden die Bewaffneten wieder im Gestrüpp.

Wenige Stunden später schon setzten sich Militäreinheiten in Bewegung, um das unzugängliche Gelände nach den mutmaßlichen Guerilleros, die offiziell wegen „unerlaubten Waffenbesitzes“ gesucht werden, zu durchkämmen – bis zur Stunde ohne Erfolg. Wie später bekannt wurde, war es aber schon am Morgen auf der Küstenstraße nach Acapulco zu Zusammenstößen mit der Militärpolizei gekommen, als merkwürdige Menschen eine Straßensperre errichteten und Autofahrer zu „Spenden“ für die Revolution anhielten; vier Menschen wurden bei dem nachfolgenden Schußwechsel verletzt.

Nun wird in Mexiko über die Herkunft der mysteriösen Gruppe spekuliert. Als „groteske Pantomime“ bezeichnete der linke Oppositionsführer Cuauhtémoc Cárdenas, einer der Hauptredner der Gedenkveranstaltung, verärgert den spektakulären Auftritt der „verkleideten Guerilleros“, der einen „Akt der Unverantwortlichkeit und der Provokation“ darstelle. Zwar ist nicht auszuschließen, daß die ERP ihre Wurzeln tatsächlich in der extremen Armut und Repression im Bundesstaat Guerrero hat, der zusammen mit Chiapas als das Armenhaus der Republik gilt. Nach Ansicht des Kolumnisten Ricardo Alemán sind aber ebensogut zwei andere Szenarien denkbar: die ERP als eine vom lokalen Drogenhandel finanzierte Terrortruppe – wofür zumindest die mafiatypischen AK-47-Gewehre sprechen – oder eine von den Machthabern lancierte Provokation zur Destabilisierung der ohnehin mehr als fragilen Lage im mexikanischen Süden.

Als „weiteren verzweifelten Hilferuf der Armen“ bezeichnete der Präsident der Mexikanischen Menschenrechtsakademie, Sergio Aguayo, das „nicht ganz unerwartete“ Auftauchen der ERP. Die guerrensische Sierra beherbergte schon vor einem Vierteljahrhundert die beiden wichtigsten Guerilla-Bewegungen Mexikos. Seit über zwei Jahren kursieren in Guerrero Gerüchte über neue „bewaffnete Gruppen“ in den Bergen. In vertraulichen Militärberichten ist immer wieder von „subversiven Umtrieben“ die Rede, weswegen die Region unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung zunehmend militarisiert worden ist. Wenn die Institutionen „unfähig“ seien, den Leuten Sicherheit und Gerechtigkeit zu verschaffen, dann nähmen diese „das Recht eben in die eigenen Hände“, kommentierte die bekannte Menschenrechtlerin Marieclaire Acosta mit „Bauchschmerzen“ das Geschehen.

Nicht minder beunruhigend erscheint indes die Ankündigung der Bundesstaatsanwaltschaft, ihre Ermittlungen auf die „am Tatort involvierten Personen“ zu konzentrieren. Immerhin nahmen an der Gedenkveranstaltung, auf der die Wiederaufnahme des offiziell abgeschlossenen Verfahrens gegen die Verantwortlichen des Bauernmassakers gefordert wurde, rund 5.000 Menschen teil, darunter namhafte Oppositionspolitiker. Die Erklärung der Justizbehörden könne zu einem Klima „politischer Lynchjustiz“ beitragen, warnte der Jurist Emilio Krieger, und so möglicherweise eine Offensive gegen oppositionelle Bewegungen in ganz Mexiko einleiten.