Keine Theokratie

■ Türkei: Islamistenführer wird Ministerpräsident

Der Aufschrei, daß ein islamistischer Politiker Ministerpräsident der Türkei wird, ist fehl am Platz. Die islamistische Wohlfahrtspartei ist Teil des parlamentarischen Systems. Sie stellt die stärkste Fraktion im Parlament und bildet nun nach zähen Koalitionsverhandlungen gemeinsam mit Tansu Çillers Partei des rechten Weges die neue Regierung in Ankara.

Und doch ist ein Aufschrei vonnöten – allerdings nicht, weil ernsthaft die Herrschaft religiöser Fundamentalisten vor der Tür stehen würde, sondern weil diese Regierung das Ergebnis eines unlauteren Handels ist. Inhaltlich verbindet beide Parteien wenig. Sieht man von der Feindschaft der Parteiführer Çiller und Mesut Yilmaz ab, stehen sich die Partei des rechten Weges und die Mutterlandspartei viel näher. So ist der einzige Grund für die neugebildete Koalition: Çiller wird aus dem Schmiergeldsumpf herausgezogen. Den Wählern hatte sich Çiller als Garant präsentiert, daß die Islamisten von der Macht ferngehalten werden. Nun hat sie, um ihren Kopf zu retten, dem Islamist Erbakan die Macht anvertraut.

Es ist skurril: Viele Wähler, denen die korrupte Regierung Çiller leid geworden war, hatten den Islamisten die Stimme gegeben. Viele Wähler votierten andererseits für Çillers Partei, weil sie die Islamisten von der Regierung fernhalten wollten. Beide Wählergruppen sind verkauft worden. Der Deal lautet: Schwamm über Çillers Korruptionsaffären, dafür wird Allahs selbsternannter Kämpfer Erbakan Ministerpräsident. Die Machtpfründen sind Erbakan lieber als die „Sauberkeit in der Politik“, die er versprochen hatte. Dies entlarvt das Gerede der islamistischen Wohlfahrtspartei, sie stelle eine „Systemalternative“ dar. Indem er Çiller als Koalitionspartner akzeptierte, hat sich Necmettin Erbakan selbst ad absurdum geführt.

Die Regierungskoalition wird die Türkei nicht in ein theokratisch geführtes Land verwandeln. Düster wird es weiterhin bleiben: Die Todesschwadronen werden weitermorden, die Panzer in Kurdistan rollen, die Staatssicherheitsgerichte Intellektuelle aburteilen. Doch eines hat sich geändert in der Türkei. Diejenigen, die Parolen des Propheten Muhammad zu Ethik und Moral zur Wahlkampfpropaganda nutzten, sind endlich Teil des korrupten, repressiven Systems. Ömer Erzeren