„Rot-grüner Unsinn“ nach den Ferien

Trotz des Argwohns der Schulaufsicht bietet Ingrid Stahmer den Schulen mehr Autonomie an. 1993 von den Bündnisgrünen angestiftet, bewerben sich immer mehr Schulen um Freiräume  ■ Von Christian Füller

Schulsenatorin Ingrid Stahmer gab sich begeistert: Sie sehe eine „grundlegende Wende in der Bildungs- und Schulentwicklung“, sagte die Sozialdemokratin jüngst auf einem Kongreß, der sich mit dem seit 1993 laufenden Berliner Modellprojekt „Schulen in eigener Verantwortung“ befaßte. Wie die taz erfahren hat, will Stahmer die neue Autonomie der Schule nach den Sommerferien zu dem großen Thema ihrer Amtszeit machen: Alle Berliner Schulen sollen dann die pädagogischen und finanziellen Freiheiten erhalten, die bislang nur im Rahmen des Modellprojekts gewährt wurden.

Schon seit 1993 versuchen 90 Schulleiter in dem Projekt, ihre Lehranstalten der staatlichen Aufsicht zu entziehen. Bereits wenige Wochen nach dem Autonomie- Rundschreiben haben sich weitere 41 Schulen um die „erweiterte Verantwortung“ beworben. Dabei können die Schulen den 45-Minuten-Takt aufheben, klassen- und jahrgangsübergreifend Unterricht anbieten oder den Ganztagsbetrieb ausweiten.

Daß Schulen Unterricht eigenständig planen und Anschaffungen ohne staatliche Genehmigung vornehmen, „haben viele als rot-grünen Unsinn abgetan“, sagt Hubertus Fedke, der in der Schulverwaltung das Autonomieprojekt betreut. Im September kann der „Unsinn“ nun für alle Schulen konkret werden: Die Pennen dürfen dann pädagogische Schwerpunkte setzen, indem sie beispielsweise alle Erdkundestunden des Schuljahres zu einem Block zusammenfügen. „Epochaler Unterricht“ sagen die Pädagogen dazu, und es ist leicht vorstellbar, daß zwei Wochen Erdkunde am Stück mit Exkursion spannender sind, als allwöchentlich ein Stündchen vor der Landkarte abzusitzen.

Der Wunsch nach pädagogischer Autonomie kommt nicht von ungefähr: Hierzulande „müssen sie jede Kleinigkeit beantragen“, beschreibt Autonomie-Referent Fedke den praktisch nicht vorhandenen finanziellen Spielraum der Schulen. Einen mechanischen Spitzer für 27,38 Mark: ohne das Okay eines Schulaufsichtsbeamten kriegt den kein Schulleiter. Zwei Stunden mehr Musik oder Informatik pro Woche: bislang ein Ding der Unmöglichkeit. In dem Modellprojekt, das Stahmer nun auf ganz Berlin ausdehnt, ist ein Plus von zwei Stunden kein Problem. Allerdings: Beantragen müssen die Pauker es immer noch. Denn der Novelle des Schulverfassungsgesetzes, die den Schulen eine Schwerpunktbildung pauschal freistellen würde, fehlt noch das Votum des Abgeordnetenhauses.

So trägt das Land der Oberschulräte und Kultusministerkonferenzen schwer an seiner obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit: Das Gesetz muß sein, erläutert Fedke, „sonst verlieren wir jede Elternklage, wenn einer nach dem Epochenunterricht durchfällt“. Auch Fedkes Kollegen Schulaufsichtsbeamten sind skeptisch, wie sie die neue Freiheit ihrer bürokratischen Objekte beurteilen sollen. Die Autonomie bringt nämlich ganz neue Arbeitsformen mit sich. Etwa die „interne und externe Evaluierung“, die in den Niederlanden die staatliche Aufsicht über das ansonsten sehr freie Schulwesen ersetzt hat. „Beim Evaluieren ist es“, erinnert Fedke an die Kontrollpraxis seiner Kollegen, „nicht mehr mit einem Besuch in der Schule und dem erhobenen Zeigefinger getan.“

Bundesländer wie Hessen, Bremen und Hamburg gewähren ihren Schulen schon mehr Autonomie. In den Niederlanden können die Schulen gar ihre Lehrer selbst einstellen. Soweit wird es aber „in Berlin nicht kommen“, meint Hubertus Fedke. Deutschland stehe eben in einer anderen Tradition. Die manifestiert sich etwa in der Landeshaushaltsordnung, die eine freie Mittelbewirtschaftung der Schulen bis dato verbietet. Nur den ihrem Etat direkt zugeordneten Oberstufenzentren wird Ingrid Stahmer daher zunächst ein begrenztes Budget freistellen können. Die anderen Schulen an der Spree stehen noch unter der finanziellen Obhut der Bezirke.

Der bündnisgrünen Abgeordneten Sybille Volkholz geht das Autonomieprojekt denn auch viel zu langsam voran. Sie initiierte 1993 den Modellversuch mit einem Parlamentsantrag. „Es wird langsam Zeit, das stärker zu puschen“, meint Volkholz. Die GEW ist, obwohl im Grundsatz für die Autonomie, zurückhaltend. Die Skepsis der Erziehungsgewerkschafter rührt von der Finanzknappheit. Sie frage sich, sagte GEW-Sprecherin Erdmute Safranski, wie man den Schulen ausgerechnet dann mehr finanzielle Autonomie zugestehen könne, wenn es nichts mehr zu verteilen gebe.