Jetzt hat Fliege eine Meise

■ "Eine Schlagzeile hat mein Leben auf den Kopf gestellt": Der Berliner Wolfgang Müller, angebliches Presse-Opfer der taz, sitzt heute gemeinsam mit Julius Hackethal und Reiner Pfeiffer bei Pfarrer Fliege auf ein

„Es gibt Menschen, die gehen sonntags nur wegen des Segens zur Kirche. Ein Satz, eine Geste – und sie fühlen sich wieder geborgen. Wahrscheinlich weit mehr Menschen warten ebenso lange Nachmittag für Nachmittag auf mein Schlußwort, auf den Satz, der trägt und tröstet. Damit sie bei Trost bleiben.“ (Pfarrer Fliege)

Die Geschichte schien ausgestanden. „Blaumeisen für Feinkostgeschäfte“, titelte die taz im Februar 1994 auf der Wahrheit. Claudia Schandt schrieb damals einen erschütternden Bericht über den Künstler Wolfgang Müller, der in einem Nistkasten vor seinem Küchenfenster Blaumeisen fing und anschließend an italienische Feinkostgeschäfte verkaufte. „Die Vögel kommen ja freiwillig zu mir“, entschuldigte er sich lapidar. Die Geschichte sorgte für einigen Wirbel. Vogelliebe Leserbriefschreiber drohten dem Blaumeisenfänger das Handwerk zu legen, die Polizei durchsuchte die Redaktion. Am schlimmsten aber war, daß sich die Enthüllungsstory im nachhinein als unsauber recherchiert erwies. Gleichwohl der schreckliche Verdacht nie ganz ausgeräumt werden konnte, gab die taz Wolfgang Müller die Möglichkeit, sich zu den Vorwürfen zu äußern. In einem Interview unter der Überschrift „Der Berliner Blaumeisenschlächter wehrt sich“, behauptete Müller (taz vom 11.2.94), er sei das Opfer einer Intrige. „Es ist nicht möglich, mehrere Kästen für Blaumeisen nebeneinander zu hängen.“ Eine komische Ausrede – dennoch schien die Sache damit erledigt.

Bis Pfarrer Fliege kam. Seit Jahren steigen seine RedakteurInnen auf der Suche nach sensationellen Schlagzeilen in die Archive hinab, wo sie sich, dem namensgebenden Insekt nicht unähnlich, auf allerlei alte Haufen setzen und darin herumwühlen. Dabei stießen sie wohl auch auf die taz-Geschichte vom Meisenschlächter, die sie für das heutige Oberthema „Eine Schlagzeile hat mein Leben auf den Kopf gestellt“ noch einmal an die Öffentlichkeit zerrten. Wolfgang Müller wurde eingeladen, um von seinen Erfahrungen mit einer zunehmend unseriösen Presse zu berichten. Daß die taz das vermeintliche Presse-Opfer seinerzeit umgehend rehabilitiert hatte, paßte wahrscheinlich nicht ins Sendeformat. Statt dessen sitzt Wolfgang Müller in der heutigen Talkshow auf einer Stange mit notorischen Medien-Märtyrern wie Reiner Pfeiffer und Julius Hackethal. Schreiben die etwa inzwischen Agentengeschichten für die Bild- Zeitung oder medizinische Fachberichte im Stern? Nein. Wolfgang Müller aber hat noch immer die Gelegenheit, seine ornithologischen Reportagen regelmäßig in der taz zu veröffentlichen. Erst neulich berichtete er von einer Reise auf die isländische Vogelinsel Flatey und über eine Orchideenwanderung in Müncheberg bei Brandenburg (taz vom 21.6.: „Am Rande eines entenlosen Teiches“). Aber das nur am Rande, Pfarrer Fliege. Oliver Gehrs