Eine Abtreibung und viel Verlorenheit

■ Den Groschenroman konsequent weitergedacht: Alexandra Maria Lara und Henry Hübchen brillieren im gehobenen Milieu – „Mensch Pia!“, ZDF, 19.25 Uhr

Was uns gemeinhin als TV-Serien mit dem gewissen Familientouch präsentiert wird, ist, milieutheoretisch gesprochen, bis auf exotische Ausnahmen strikt mittelklasseorientiert. Ob früher „Diese Drombuschs“ oder „Ich heirate eine Familie“, aktuell auch beispielsweise das „Forsthaus Falkenau“: Die Menschen sind freundlich, aufstiegsorientiert, ökologisch sensibilisiert und halten Glamour für unanständig. Verständnis füreinander zu haben, gilt als größte Tugend, Neid und andere fiese Gefühle kommen nur in geringen Mengen vor. Die Kinder wirken in diesen Serien wie fleischgewordene Nirostaspülen und die Erwachsenen wie weise Jugendliche.

Daß diese Konfigurationen wenig Identifikationen bieten, liegt auf der Hand. Wer will schon, wenn er inmitten trostloser Verhältnisse lebt, den kleinen Sprung ins gehobene Angestelltendasein riskieren, wenn zumindest die Träume bis weit in die Daseinsformen von Königshäusern reichen können? Nicht umsonst werden ja Groschenhefte mit Chefarztappeal oder monarchischer Atmosphäre besonders erfolgreich in sogenannten sozialen Spannungsgebieten verkauft.

Dies alles muß den zuständigen ZDF-Redakteuren durch den Kopf gegangen sein, ehe sie sich dafür entschieden, nach einem Drehbuch von Brigitte Blobel (erfahrene Journalistin gerade im Glitzerbereich) die Regisseurin und Babelsberg-Absolventin Karola Hattop mit der Arbeit an der Serie „Mensch Pia!“ zu betrauen. Denn die Geschichte des heranwachsenden Mädchens spielt ausschließlich im gehobenen Milieu, wo Geld bekanntlich nur eine kleine Rolle spielt.

Pia ist ein Mädchen, dessen Mutter als Journalistin in einem schöngeistigen Verlag arbeitet, der Vater wird als erfolgreicher Konzertpianist vorgestellt. Trauer und Leid durchziehen die Szenerie, denn der kleine Bruder, herzig Bommel genannt, liegt im Sterben. Als er schließlich tot ist, zeigt Brigitte Karner als Mutter, daß sie eine große Schauspielerin ist. Wie sie ihrer Familie gefühlsmobbend demonstriert, daß sie die traurigste von allen ist, sieht gruselig echt aus. So furchtbar möchte die eigene Mutter bitte niemals sein!

Pia jedenfalls bleibt – traurig, aber wahr – auf der Strecke. Kann sich in der Schule nicht mehr konzentrieren, bleibt in der Trauernacht bei ihrem besten Freund, weil sie wenigstens bei ihm Trost findet, und wird jedenfalls von ihren Eltern überhaupt kein bißchen ernst genommen. Typisches Schicksal von Pubertierenden, für die die Welt an sich eine unverständige ist. Klar, daß in diesem Plot auch der Vater noch eine Geliebte hat. Und logisch, daß Pia alle für moralisch takt- und lieblos hält.

Dieses inszeniert Karola Hattop zwar verhalten, doch nur um die Pracht der Kulisse, die Erlesenheit der Dialoge („Tut mir leid, daß ich nicht gestorben bin“) und der Umgangsweisen nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.

Der Clou allerdings ist, daß Pia am Ende in ein Internat gesteckt wird, um wieder aufzublühen. Dort, in einem Schulgebäude im Lüneburgischen, daß ZuschauerInnen aus Wohnghettos wie ein Paradies vorkommen muß, erlebt die Hauptdarstellerin allerlei Abenteuer: Schulstreß, garstige Lehrer, nette Vertrauenslehrer, eine Abtreibung und viel Verlorenheit. Schön, daß Alexandra Maria Lara in der Titelrolle so überzeugend traurig-verworren aus den Augen schauen kann.

Grandios, wie Henry Hübchen den Vater gibt, nämlich auf so deodorierte Weise brutal gegen seine Tochter, daß man als Zuschauer nur Angst bekommt. Weitere Juwelen des deutschen Schauspielgewerbes haben sich zudem nicht lange bitten lassen, um eine Rolle in „Mensch Pia!“ anzunehmen: Nina Hoger, Robert Glatzeder, Rolf Becker und Gudrun Okras sind wahrlich keine Fehlbesetzungen.

Daß das alles nach zehn Folgen ein mittleres Happy-End haben wird, ist sowieso klar. Doch wir lernen, daß auch bei den höheren Ständen der Republik viele ihr ganz eigenes Päckchen zu tragen haben. Jan Feddersen