Spandau drängt Behinderte ab

■ Sozialdienst Spandaus empfiehlt Schwerstbehinderten, auf die teure Pflege zu Hause zu verzichten. Diese nennen das Entmündigung und ziehen vors Spandauer Rathaus

Jetzt hat Dieter Liez ein Problem: Ein Dutzend Behinderte erhob gestern schwere Vorwürfe gegen den Spandauer Sozialstadtrat. Christdemokrat Liez, so die Schwestbehinderten, übe Druck auf sie aus, um sie in Pflegeheime zu drängen. Das komme dem Bezirk billiger als die häusliche Pflege. Im vorauseilenden Gehorsam exekutiere Liez damit einen Abrechnungsmodus der Pflegeversicherung, dessen Einführung in Berlin noch in der parlamentarischen Diskussion ist. Die „Pflegemodule“ benachteiligen Menschen mit schweren Behinderungen. (siehe Kasten)

Spandaus Bürgermeister Konrad Birkholz (CDU) und der Leiter des Sozialamts dementierten heftig – mußten aber den Demonstraten vor dem Rathaus klein beigeben, als ein Behinderter seinen Fall schilderte. Frizi Farid sagte, ein Sozialarbeiter habe ihm vor vier Wochen erklärt, dem Amt werde die häusliche Pflege zu teuer. Er solle sich bis September „etwas überlegen“, ansonsten drohe ihm die Einweisung in ein Pflegeheim. Der 27jährige Farid leidet an Muskelschwund, der fortschreitenden Abnahme von Muskelkraft. Er ist 24 Stunden auf eine Assistenz angewiesen.

Nach Farids Bericht schob Sozialamtsleiter Jörg Kundt seinen Mitarbeitern den Schwarzen Peter zu: „Wenn das so geschehen ist, werde ich disziplinarische Maßnahmen ergreifen.“ Am Sozialdienst liegt es freilich nicht. Kundt selbst sagte, sein Amt habe bei mehreren Behinderten, „die umfangreiche Pflege in Anspruch nehmen“, eine Überprüfung der Pflegesituation durchgeführt. Ziel der jährlichen Überprüfung sei es herauszubekommen, ob der Bedarf noch bestehe. „Es ist zynisch“, griff daraufhin eine Sprecherin der Behinderten Kundt an, „bei Menschen mit Muskelschwund eine jährliche Überprüfung durchzuführen.“

Jutta Rütter vom „Frauennetzwerk Selbstbestimmt Leben“ forderte von Bezirksbürgermeister Birkholz die Zusage, daß Spandau an der Pflege Schwerbehinderter nichts ändere. „Diese Zusage werde ich Ihnen hier nicht geben“, antwortete der Christdemokrat. Der Bezirk müsse sparen.

Die häusliche Pflege von Menschen, die an Multipler Sklerose, dem Parkinsonschen Syndrom oder anderen schweren Behinderungen leiden, kostet den Bezirk monatlich 30.000 Mark. Manches Pflegeheim berechnet dafür 12.000 Mark.

Für viele behinderte Menschen bedeutet der Gang ins Heim indes, das selbstbestimmte Leben aufgeben zu müssen. Zum Beispiel Matthias Vernaldi: Der 37jährige hat Muskelschwund. Er muß sich ständig anders hinsetzen – was er nicht allein kann. Geschieht dies nicht, leidet Vernaldi an Schmerzen und die Körperpartie entzündet sich. Nur individuelle Pflege kann helfen. Wie viele Schwerbehinderte nennt Vernaldi das „Assistenz“, die Hilfe beim Aufstehen, Essen, bei Körperpflege und Kommunikation. Das Heim aber wäre für den Mann eine „menschliche Entwürdigung“. Das Heim reglementiert sein Leben, es hebt seine Privatsphäre auf. „Es beginnt bei solchen Punkten, daß ich nicht darüber befinden kann, was ich essen möchte, ob ich Besuch über Nacht dalassen kann, daß Sachen wie Sexualität eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sind unter Heimbedingungen.“ Christian Füller