Blaues Blut, Schraube locker

Grauenhafte und äußerst schreckenerregende Sportarten, mit denen uns das Fernsehen langweilt und die vor allem gar keine Sportarten sind, Folge XV  ■ Von Albert Hefele

Ein königliches Spiel also. Mal sehen. Könige sind, wie man weiß, blasse, degenerierte Langweiler, über deren völlig unerhebliche Aktivitäten vorwiegend Gazetten wie das Goldene Blatt berichten. Bei Königs sitzt man an reichgedeckten Tischen und nippt gelangweilt am sauteuren Mahl. Könige streichen Kindern aus Papua-Neuguinea übers lockige Haupt und tun so, als würden sie sich für die Probleme der armen Leute interessieren. Zweimal im Jahr läßt man sich in einer goldenen Karosse umherfahren, müde den am Straßenrand mit den Gebissen klappernden Senioren zuwinkend. Dann tragen Königs auch schon mal ein Krönchen.

Die übrige Zeit wandeln Könige, so sie weiblichen Geschlechts sind, unter wagenradgroßen Deckeln oder winzigen Kompotthütchen mit hochgeschlagenen Krempen einher. Ihre mehr oder weniger faltigen Körper haben sie in ebensolche Kleider gepackt, aus denen dürre Beine und Füße in flachen Schühlein ragen. Königinnen blicken meist bekümmert drein. Einesteils um zu demonstrieren, daß sie trotz umfänglicher Apanagen ihre Sorgen haben, andererseits weil der adelige Nachwuchs nicht so tut, wie man es gerne hätte.

Männlicherseits sind Könige dünn gesät. Meistens müssen sie sich damit abfinden, daß es wohl nichts mehr wird mit den höchsten Würden. Dann fristen sie ihr Dasein als Prinz; stehen, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, im Hintergrund und widmen ihr Leben dem Auffinden von seltenen Gurkensorten. Jene, die es doch zu Amt und Würden bringen, sind nicht etwa glücklich, sondern meistens depressiv und/oder nicht bei Trost. Letztere Tatsache würde uns wieder zum Schachspiel bzw. den es Ausübenden führen, denn viele der großen Schachspieler haben ein kräftiges Rad ab.

Ein Wunder? Schach, auf hohem Niveau ausgeübt, ist kein ganz einfacher Zeitvertreib. Der Spieler muß oft Tag und Nacht grübeln und sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, an seinem Brett. Vierundsechzig Felder und zweiunddreißig Figuren. Von denen dürfen manche schräg und manche gerade, manche gar ums Eck. Springen, schlagen, vor und zurück. Rochade. Das ist kompliziert. Darum glotzt der Spieler lange, lange und wie hypnotisiert auf die kleinen Püppchen. Unbedarfte Kiebitze vermuten, man sei bereits eingeschlafen, und manch kühner Weberknecht trägt sich mit dem Gedanken, den unbeweglichen Denker zu umspinnen. Frevler, der! Denn irgendwann und völlig unvermittelt gerät Leben in den Sinnenden, und er schiebt aufatmend ein Bäuerlein.

Woran man alles denken muß! Spanische Eröffnung, Tal-Variante, Botwinnik-Komplikation. Normale Menschen geraten schon an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wenn sie nur drei Züge im voraus kombinieren sollen; der Könner hat Tausende von Partien im Kopf. Auswendig! Keine Kapazitäten mehr fürs popelige Alltagsgeschäft. Wen wundert's, daß da der eine oder andere die Orientierung verliert; im Kosmos der vierundsechzig schwarzen und weißen Felder seine sieben Zwetschgen durcheinandergeraten. Nur noch Schach! Einige lassen sich das Zimmer kariert tapezieren und gehen als Pferd verkleidet.

Im Wettkampf wird alles noch viel komplizierter. Sogar die hochorganisierten Oberstübchen der Großmeister kriegen das nicht mehr ganz auf die Reihe. Darum halten sie sich ein Häuflein von etwas mickriger dimensionierten Unterdenkern als Berater. Für die Drecksarbeit. Rauskriegen, was die Gegenpartei vorhat bzw. wie man selbst den anderen aufs Glatteis führen könnte. Traditionell die wichtigste Fähigkeit derer von königlichem Geblüte. Die Annalen der großen Duelle sind voll Perfidie. In der harmlosen Variante geht es um alles, was den Partner ärgert: Man kratzt sich an der Cordhose oder atmet rasselnd. Der tiefere Sinn liegt darin, den Gegner möglichst nachhaltig zu irritieren, um ihm auf diese Wege ein Höchstmaß an intellektueller Kapazität abzusaugen. Wenn es um richtig viel Geld geht, gibt es keine Bremse mehr. Und die angeblich so zart besaiteten Denker greifen ohne Umschweife zu den harten Bandagen. Schon anno 72 trieb der ebenso geniale wie hinterfotzige Bobby Fischer etlichen Schabernack mit dem braven Boris Spasski. Bis der und sein sowjetischer Beraterhaufen sich nicht anders zu helfen wußten als mit aller Vehemenz zurückzuschlagen. Und Fischer der Aussendung dubioser Strahlen und des Gebrauchs chemischer Substanzen bezichtigten. Was dazu führte, daß kein Mensch die Russen mehr ernst nahm; nebenher verlor Spasski auch noch das Spiel.

„Fair play“ steht im Handbuch dieses Sportes ganz klein und ganz hinten. Welcher der Schachgiganten hätte seinem potentiellen Gegner nicht schon Hinterlist und persönliche Verkommenheit unterstellt? Alles, was Erfolg und reichlich Geldsegen verspricht, ist erlaubt. Aktuelles Indiz: FIDE- Chef Iljumschinow wollte die Weltmeisterschaft zwischen Karpow und Kamski in Bagdad ausrichten. Unter der Schirmherrschaft des Schwiegersohnmörders Hussein – und mit dessen Kohle.

Nicht schön, nicht charakterbildend. Aber: zugegebenermaßen auch nicht uninteressant. Eigentlich ein Sport, der in unsere Zeit und in unsere Fernsehkästen paßt. Intrigen, Hinterlist, Irrsinn und Genie. Leider zeigt uns der Bildschirm nichts von all den schönen Gemeinheiten. Sondern nur langweilige Totalen, matte Schemata und dröge Grafiken, kommentiert von einem in seinen Fusselbart sabbernden Hilfsdozenten für Altgriechisch. Das ist ein bißchen wenig. Sogar für einen Sportsender.

Außerdem ist Schach kein Sport, weil das Lexikon ausdrücklich sagt: „Sport ist die Sammelbezeichnung für alle als Bewegungs-, Spiel- oder Wettkampfformen geprägten körperlichen Aktivitäten des Menschen.“ Körperlich, Damen und Herren! Der einzige motorische Ablauf, den ein Schachspieler beherrschen muß, ist der gepflegte Spitzgriff. Oder der unauffällige, aber gezielte Tritt unter dem Tisch. Ans Scheinbein seines Gegners.