■ Von Seeelefanten, Balletttänzern und Myrre: Die unbeabsichtigte List der Reform der Rechtschreibung
: Lob des Fehlers

Seit Christoph Kolumbus' Westpassage weiß man: Nebenfolgen behaupten sich resistent gegenüber geplanten Absichten. So ergeht es auch der Rechtschreibreform. Der Effekt dieser Reform, die generalstabsmäßig über richtig und falsch befindet, wird die Autorität der Regelwerke und den naiven Glauben an richtig und falsch weiter erschüttern.

Denn mit der klaren Unterscheidung, was richtig und was falsch ist, wird es demnächst schwierig werden. Heute noch schreibe ich Angst groß, wenn ich sie habe und muß sie klein schreiben, wenn ich anderen angst mache. Von 1998 an wird das anders sein, dann wird Angst immer groß geschrieben. Aber was, wenn Schüler nach ihren Ferien schon so schreiben, wie es erst am 1. August 1998 richtig sein wird? Wenn sie selbständig bereits mit zwei „st“ schreiben, wenn sie in der Anrede Du und Sie klein schreiben und so weiter?

Mit Spitzfindigkeiten, was nach der neuen Regelung Rechtschreibung ist und was Falschschreibung sein wird, wollen wir uns nicht aufhalten. Etwas anderes ist viel interessanter. Mit Übergangsregelungen, wie lange die alte Schreibweise kein neuer Fehler sein soll, sondern nur das veraltete Richtige, und wie lange Übergangsregelungen gelten sollen, die Kultusbürokraten feinsäuberlich und natürlich in jedem Bundesland etwas anders festlegen, mit all diesen Regelungen im Übergang von falsch und richtig und richtig zu falsch blamiert sich das bürokratische System der diktierten Rechtschreibung und der diktierten Fehlerinquisition. In der Übergangszeit wird nicht nur eine Schreibweise richtig sein, und warum soll es dann nicht so bleiben?

Und wenn es zwei Möglichkeiten gibt, warum dann nicht auch eine dritte? Überhaupt, wer hat das Recht zu verordnen, daß der Rhabarber sein vornehmes „h“ behält, es dem Katarr hingegen genommen wird und er profanisiert wird wie die heilige Myrre? Müssen wir nun wirklich Balletttänzer und Seeelefant schreiben?

Um die Verwirrung aus der Doppelherrschaft zweier Regelwerke, die die Kultusstrategen auf die Zeit vom 1. August 1998 bis ins Jahr 2005 befristet haben, zu reduzieren, sollen die Schulen in einigen Bundesländern schon gleich nach den Ferien mit der neuen Rechtschreibung beginnen. Aber wer glaubt auf diese Weise die Verwirrung schneller hinter sich zu bringen, wird sie nur vergrößern, denn die Schulbücher werden im Herbst ja noch die alten sein.

Nein, die Rechtschreibreform wird das Ende der eindeutigen und einfältigen Welt von Recht- und Falschschreibung beschleunigen. Irgendwie müssen das auch die Bundesrichter gespürt haben, die vergangene Woche die Klage eines Rechtsprofessor aus Jena, der die Rechtschreibreform aufhalten wollte, abwiesen. In der Begründung trösteten die Richter ihren Juristenkollegen, er sei doch nicht gezwungen, sich der Reform anzupassen. Auch in Karlsruhe hat man die Zeichen der Zeit verstanden: Es gibt nicht nur die eine Wahrheit. Es gibt Unschärfen dazwischen. Die Landschaften des Möglichen werden erweitert. Die Zeit der Schrebergartenpädagogik, die mit Wut jedes Unkraut vernichtet, läuft aus.

Die Argumentation des in Karlsruhe abgewiesenen Rechtsprofessors bietet einen aufschlußreichen Einblick in die Geheimgrammatik jener untergehenden Kultur des Richtigmachens und der Angst vor Fehlern. Der Rechtsprofessor aus Jena hatte Angst, künftig „als Falschschreiber einer Blamage ausgesetzt zu sein“. An den bisherigen Regeln hänge seine „sprachliche Identität“. Außerdem fühlte sich der Professor in seiner Lehrfreiheit eingeschränkt, wenn er künftig nicht mehr seinen Studenten Abweichungen von jener alten Rechtschreibung, die er für die einzig richtige hält, als Fehler anstreichen darf. So argumentierte er tatsächlich.

Fehler zu machen stuften die Richter ebensowenig als tödliche Blamage ein, wie sie das Fehlerkorrigieren als Grundrecht eines Hochschullehrers schützen wollen. Die Unsicherheit – habe ich nun einen Fehler gemacht, oder bin ich nur dem alten Richtigen gefolgt, das nun das neue Falsche sein soll – diese Unsicherheit macht Menschen wie dem Jenaer Rechtsprofessor angst, egal ob sie diese Angst altmodisch klein oder pünktlich vom 1. August 1998 an groß schreiben werden.

Aber wo führt das hin, wenn jeder schreibt, wie er will? Chaos und Anarchie! Nein, nein. Wir kehren zurück in die gute alte Vor- Duden-Zeit, als die geschriebene Sprache noch nicht in die Schublehren der DIN-Ordnung gezwängt wurde. So findet man bei Goethe manche Wörter mal so und mal anders geschrieben. Warum auch nicht? Wir sprechen sie doch auch mal so und mal anders aus. Die Sprache braucht Spielräume, um sich zu entwickeln. Außerdem weiß inzwischen jeder, daß es keine Evolution ohne Chaos gibt. In der Opto-Elektronik zum Beispiel haben jüngst Wissenschaftler in Aachen herausgefunden, daß ein gewisses Maß an Unreinheit in Halbleitern ihre Eigenschaften verbessert – ob des Fehlers, selbst in der Elektrotechnik.

Und im Management japanischer Konzerne gibt es eine Art Mittagsmeditation: „Hast du heute schon einen Fehler gemacht?“ Diese Frage wird dort anders intoniert, als wir sie aus Schulen, Kasernen oder hierarchischen Unternehmen gewohnt sind. Denn wer noch keinen Fehler gemacht hat, der hat noch nichts gewagt. Der Fehler gilt nun als Eintragung im mentalen Paß, der die Grenzgänger, die Neuland betreten, vom Nachschub unterscheidet.

Deshalb sollten wir die neue Unsicherheit in der Rechtschreibung begrüßen. Denn die Innovationen auf die der Standort Deutschland so sehnsüchtig wartet, die kommen nicht aus linearer Planung, die kommen nicht aus der Fortschreibung des Bisherigen und schon gar nicht aus braver Rechtschreibung, die gewissermaßen eine Dauerinitiation ins Weiterso ist. Innovationen kommen, siehe Kolumbus, aus unerwarteten Nebenfolgen, die die Menge der Möglichkeiten vergrößern. So gesehen könnte das Ende der dogmatischen Rechtschreibung der Anfang von mehr Kreativität und Poesie sein. Reinhard Kahl