Zwischen Apokalypse und Boom

■ Wenn Rußland die Qual dieser Wahl überstanden hat, naht der große Aufschwung oder eine panische Kapitalflucht

Moskau (taz) – Ein Sieg Gennadi Sjuganows bei der heutigen Stichwahl um das Präsidentenamt bedeutet für Rußland – zumindest mittelfristig – die ökonomische Apokalypse. Darüber sind sich alle ExpertInnen einig. Auch zweifelt niemand daran, daß dies nicht vom guten Willen der Kommunisten abhängt. Selbst wenn sie sich so marktfreundlich gebärdeten wie Ludwig Erhard, wenn sie nicht einen einzigen überflüssigen Rubel in der Notenbank druckten, wenn sie ihre Ohren vor den Klagen der lohnfordernden Werktätigen mit Wachs verschlössen – panische Kapitalflucht und schmerzliche Einschränkung der internationalen Hilfe wären schon aus psychologischen Gründen nicht zu vermeiden. Deshalb haben Rußlands industrielle Großmogulen alles getan, um ein solches Szenario zu verhindern.

Sein gutes Abschneiden bei der ersten Runde verdankt Präsident Boris Jelzin nicht zuletzt ihnen, und sie nähren auch seine Hoffnung, bei der Stichwahl die Oberhand zu behalten.

Ganz offensichtlich haben die Chefs der Schwerindustriekombinate ihre Belegschaften mit Erfolg für Jelzin zu den Urnen gescheucht. In Norilsk und Magnitogorsk schnitt der Präsident bei der ersten Wahltour vorzüglich ab. Auch in jenen Regionen des Landes, die vom Erdgasgiganten Gasprom, der Ministerpräsident Tschernomyrdin nahesteht, dominiert werden, bekam der Präsident überdurchschnittlich viele Stimmen. In den nordwestsibirischen Reservaten der Chanten und Mansen waren es über 50 Prozent. „Von Jelzins Sieg hängt unser Schicksal ab“, sagte Jewgeni Wernikow, Sprecher von Rußlands größtem Stahlwerk in Magnitogorsk der Tageszeitung Moscow Times: „Wir arbeiten aktiv auf westlichen Märkten und hoffen auf ausländische Investitionen, darunter einen 1,2-Milliarden-Dollar- Kredit von einem Konsortium europäischer Banken. Für uns müssen die Reformen weitergehen. Und das garantiert Jelzin.“

Nach Meinung der meisten westlichen Experten in Moskau hat der Wahlkampf Rußland zu Beginn eines großen ökonomischen Sprungs nach vorn erwischt. In Juni lag die Inflationsrate bei der neuen Rekordmarke von nur 1,2 Prozent. Aber das allzu menschliche Bestreben des Präsidenten, das Land durch Wahlgeschenke ruhigzustellen, bringt den Staatshaushalt durcheinander. Jelzin warf besonders mit Steuerbefreiungen nur so um sich. Schätzungen zufolge gehen dem russischen Staat deshalb in diesem Jahr 4,2 Milliarden Dollar durch die Lappen.

Das Haushaltsdefizit liegt schon jetzt um 2,3 Prozent höher als im Vorjahr. Wirtschaftsminister Jewgeni Jassin klagte ganz offen: „Alles könnte so schön sein, wenn bloß nicht diese Wahlen wären.“ Der Minister wies darauf hin, daß Steuern nur widerstrebend bezahlt würden: „Alle wissen, daß sich die Steuerbehörden vor den Wahlen hüten, hart durchzugreifen“, erklärte er. Wahrscheinlich werden vor der Regierungsbildung die Inflationsrate und der Rubel-Kurs erst einmal davonlaufen. Daß das Bruttosozialprodukt unter dem letztjährigen liegen wird, ist heute schon so gut wie sicher. Sollte es aber gelingen, das Land mit Hilfe der Wahlen politisch zu stabilisieren, könnte dies den Trend umkehren: Die Nachfrage nach dem Rubel bei in- und ausländischen Investoren würde wieder steigen.

Höchstwahrscheinlich wird es in Rußland in den nächsten Monaten auch eine neue Antwort auf die Frage geben: Wohin strebt das Geld? Wirtschaftsminister Jassin deutete vornehm an, daß sich zur Zeit die „Dollarisierung“ der russischen Wirtschaft und die Kapitalflucht ins Ausland verstärkt habe. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß nicht nur das vom Wahlkampf erschrockene Kapital nach einem Jelzin-Sieg schleunigst wieder nach Rußland zurückfließen würde – überhaupt stünde ein mächtiger Investitionsboom ins Haus. Vladimir Mau, stellvertretender Direktor von Ex-Premierminister Gaidars Institut für die „Ökonomie der Übergangsperiode“, meint sogar, die russische Wirtschaft könne dann den Weg der Entdollarisierung antreten. Sollte sich der Markt gemeinsam mit der politischen Situation beruhigen, würden die heute in Rußland horrenden Zinssätze sinken. Das hätte positive Folgen für die Staatsfinanzen. Eine häßliche Nebenerscheinung allerdings bestünde im Bankrott von ein- bis zweitausend kleinen Banken. Ein Aufwärtstrend in der russischen Wirtschaft deutete sich schon an. So haben die Russen in diesem Jahr um vier Prozent mehr konsumiert als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Das Außenhandelsvolumen wuchs in den vergangenen zwei Jahren um 35 Prozent. Die Zentralbank hält außerdem noch das hübsche Sümmchen von 28,5 Milliarden Dollar in Gold- und Valutareserven unter dem Tresen versteckt. Mit einem Wort: Wenn Rußland aus der Wahlkampfparalyse erwacht, kann das Land ökonomisch über den Berg kommen. Die Chancen dafür stehen gut. Barbara Kerneck