Am 4. Juli 1946, das war über ein Jahr nach der Befreiung von den Nazis, geschah in der polnischen Stadt Kielce ein Pogrom. 42 Juden wurden an diesem Tag von einem Mob regelrecht abgeschlachtet. Und das Pogrom von Kielce war kein Einzelfall

Am 4. Juli 1946, das war über ein Jahr nach der Befreiung von den Nazis, geschah in der polnischen Stadt Kielce ein Pogrom. 42 Juden wurden an diesem Tag von einem Mob regelrecht abgeschlachtet. Und das Pogrom von Kielce war kein Einzelfall. Zwischen 1.500 und 2.000 Überlebende des Holocaust wurden in den ersten beiden Nachkriegsjahren in Polen von Polen ermordet. In Radom, Krakau, Tschenstochau und in vielen Dörfern. In Polen selbst war Kielce lange Zeit tabu, denn die Polen selbst fühlten sich als Opfer. Polen als Täter – das paßte nichts ins Bild. Heute und am Sonntag finden in Kielce offizielle Gedenkfeiern statt, mit denen die Regierung Kwaśniewski das belastete jüdisch-polnische Verhältnis verbessern möchte.

Polens offene Wunde

Kielce hat sich ins Zeug gelegt: Der jüdische Friedhof der polnischen Stadt wurde in Ordnung gebracht, in der Fotogalerie läuft eine Ausstellung über das jüdische Leben vor dem Krieg, und das örtliche Theater führt ein Stück auf mit dem Titel: „Wir sehen uns in Jerusalem.“ Die antisemitischen Parolen, die noch vor wenigen Monaten die Fassaden der Innenstadt „zierten“, wurden überpinselt, die Schulaufsichtsbehörde hat Intoleranz und Fremdenhaß auf den Lehrplan gesetzt – und jenes Pogrom, durch das Kielce weltweit zum Symbol für Antisemitismus wurde, das den Rassenwahn der Nazis überdauert hat.

Heute, am 4. Juli, jährt sich das Kielcer Pogrom zum 50. Mal. Für Polen eine Chance, für Kielce ein Alptraum. In Polen war das wohl schlimmste Pogrom im Europa der Nachkriegszeit lange Zeit tabu, eine zaghafte Aufarbeitung der Ereignisse begann erst mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft. In den vergangenen Wochen wurde vielen Polen das Massaker von Kielce durch den bevorstehenden 50. Jahrestag erneut ins Bewußtsein gerufen. Zeitungen und Zeitschriften stellten die Frage: Wie konnte es dazu kommen?

Wie alles anfing, ist bis heute unklar. Hunderte aufgebrachter Männer und Frauen erschossen, ertränkten oder steinigten an jenem Tag 42 Menschen: Juden, die den nationalsozialistischen Völkermord überlebt hatten. War es ein kleiner Junge, der für drei Tage von zu Hause ausgerückt war und aus Angst vor Schlägen zu seiner Entschuldigung vorbrachte, er sei von Juden in einem Keller gefangengehalten worden. Oder war es ein Betrunkener, der behauptete, die Juden würden einem kleinen Christenmädchen Blut abzapfen.

Tatsache ist, daß sich am Vormittag jenes 4. Juli eine größere Menschenmenge vor dem Haus Nr. 7 in der Ulica Planty einfand und begann, Steine in die Fenster zu werfen. In dem Haus lebten, eng zusammengepfercht, Überlebende des Holocaust, Rückkehrer aus den Vernichtungslagern Treblinka und Auschwitz. Zu den Schaulustigen und Steinewerfern gesellten sich Soldaten, drangen in das Haus ein und versuchten, die Bewohner zu entwaffnen, verprügelten sie und warfen sie auf die Straße. Dort wurden sie anschließend vom Mob totgeschlagen.

Erst am späten Nachmittag beendeten Soldaten das Morden, indem sie Warnschüsse abfeuerten und die Straße absperrten. 36 Juden waren tot, noch einmal so viele verletzt, teilweise schwer, sechs von ihnen erlagen später ihren Verletzungen. Das zögerliche Eingreifen der Ordnungskräfte, die Beteiligung von Polizisten und Soldaten an dem Pogrom nähren bis heute den Verdacht, die Behörden hätten das Pogrom nicht nur geduldet, sondern sogar provoziert. Polens damalige kommunistische Machthaber machten sich die Sache leicht. Das Pogrom sei von der antikommunistischen Opposition angezettelt worden. Von zwölf mehr oder weniger wahllos verhafteten Verdächtigen wurden knapp zwei Wochen später neun zum Tode verurteilt und hingerichtet, die anderen erhielten Freiheitsstrafen. Von damals stammt die Propagandalosung, nach der die kommunistische Herrschaft in Polen die beste Garantie gegen ein Wiederaufleben von Nationalismus und Antisemitismus sei.

Polens national gesinnte Rechte macht sich heute die Sache nicht weniger leicht; sie deutet das Pogrom, an dem sich Hunderte Bürger – Soldaten, Polizisten und Arbeiter, die wenigsten davon Kommunisten – beteiligt haben, zu einer kommunistischen Verschwörung um. In Kielce seien sowjetische Agenten über die aus den Lagern zugewanderten Juden hergefallen und hätten dann den Eindruck erweckt, es hätte ein Pogrom stattgefunden. Die zum Tode Verurteilten seien unschuldig gewesen, ihre Geständnisse unter Folter erpreßt worden. Mit Kielce habe das alles nichts zu tun.

Polens national gesinnten Katholiken mißfällt, daß die Links- Regierung in Warschau und Präsident Aleksander Kwaśniewski den Jahrestag des Pogroms zum Anlaß nehmen wollen, das belastete polnisch-jüdische Verhältnis zu entkrampfen. So wird Polens Ministerpräsident Cimoszewicz am 7. Juli der jüdischen Gedenkfeier in Kielce beiwohnen. Und Außenminister Dariusz Rosati entschuldigte sich bereits bei seinem jüngsten Israelbesuch für die judenfeindlichen Übergriffe im Nachkriegspolen – was ihm nach seiner Rückkehr von der Christnationalen Partei prompt als würdelos angekreidet wurde.

Der Kielcer Bürgermeister Boguslaw Ciesielski wird bei der Gedenkfeier für die Morde vom 4. Juli 1946 nicht um Verzeihung bitten. Er teilte dem Spiegel mit, er sei davon überzeugt, daß am Pogrom damals „nur primitive Leute“ teilgenommen hätten, „die überwiegend gar nicht aus Kielce stammten“. Einige Kielcer Bürger jedoch erneuerten Rosatis Bitte um Verzeihung in einem Aufruf in der Lokalpresse. Auf Antrag der Kielcer Rechtsparteien äußerte der Stadtrat sein Bedauern über die Vorfälle von vor 50 Jahren, das kirchliche Organisationskomitee für die Gedenkfeiern verurteilte das Pogrom und erinnerte daran, „daß Antisemitismus eine große Sünde gegen die Menschlichkeit darstellt“.

Eine Gruppe von Stadthistorikern veröffentlichte die bisher zugänglichen Dokumente über das Pogrom. Rechtzeitig zu den Gedenkfeiern sollte auch eine Untersuchungskommission aus Historikern und Staatsanwälten ihre Forschungsergebnisse dem Stadtrat vorstellen. Daraus wurde nichts – noch fehlen wichtige Zeugenaussagen von Überlebenden in Israel. Die Wahrscheinlichkeit, nach 50 Jahren noch die ganze Wahrheit zu erfahren, sei sehr gering, sagen Historiker.

So wird die Stadt immer wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert – viele Juden in Israel und der Diaspora assoziieren mit Kielce nur eines: das Pogrom. In Kielce indes kann man immer wieder Geschichten von Kielcern hören, die im Ausland aus dem Taxi geworfen oder sofort auf das Pogrom angesprochen wurden. Krzysztof Urbanski, Kielcer Stadthistoriker und Autor mehrerer Bücher über die Geschichte der Kielcer Juden, erklärte dazu: „Man kann es totschweigen, aber das hilft ja nichts. Wenn es ein Problem gibt, muß man darüber reden.“

Das müssen sich auch die Bewohner der Ulica Planty 7 gesagt haben. 1946 lebten hier zahlreiche jüdische Familien, hier war der Sitz des Jüdischen Stadtkomitees und der Jüdischen Gemeinde. Danach waren darin Sozialwohnungen, auch eine Roma-Familie hatte in dem Gebäude mal eine Wohnung. Nun ist ein Reisebüro eingezogen, die Besitzerin hat im Parterre einen Gedenkraum eingerichtet. Rechtzeitig zu den Gedenkfeiern hat die Stadt die Fassade neu anstreichen lassen. Nun sitzen Tag und Nacht zwei Polizisten vor dem Haus und passen auf, daß ja keiner judenfeindliche Sprüche an die Wand sprüht. Jacek Pawlicki, Kielce