Wie Gott in Weiß sich irrte

■ Ein Vortrag über das Entstehen von ärztlichen Kunstfehlern vom Herzchirurg Marc R. de Leval

Wie kommt es, daß ein Mensch, der keinen blassen Schimmer von Herzchirurgie hat, sich angezogen fühlt von einem Vortrag dieses Themas? Die Systemtheorie macht's möglich. Denn zu ihren Vorzügen zählt, daß das hochabstrakte Theoriegebilde die Beobachtung unterschiedlichster Themenbereiche mit ein und demselben Begriffsapparat ermöglicht. Und der Vortrag des französischen Herzchirurgen Marc R. de Leval mit dem Titel: Human Factors and Surgical Outcomes, ein Vortrag über ärztliche Kunstfehler als Systemfehler, ließ doch offensichtlich erwarten, hier einige genreübergreifende Erkenntnisse zu gewinnen.

Doch die Kulisse des Abends ließ schnell befürchten, daß mit gesellschaftsrelevanten Interpretationen hier eher gegeizt werden würde. Denn wer sich im gediegenen Speisesaal des Literaturhauses einfand, schien ausnahmslos dem Teilsystem Medizin anzugehören, welches scheinbar eine Art Cocktailparty zu zelebrieren gedachte. Mittelalterliche Pärchen nippten schick kostümiert an edlen Tröpfchen, die Herren, adrett krawattiert, steckten die nicht selten schon greisen Arzt-Stirnen zusammen, um fachspezifische Fragen zu erörtern. Oh je, allein unter Medizinern.

Doch zumindest eine Person teilte das Schicksal des Chronisten, kein Arzt zu sein: Kultursenatorin Christina Weiss. In ihrer Einleitung erweiterte sie den Fokus von der Herzchirurgie im speziellen auf komplexe Systeme und Kunst im allgemeinen. Wie lassen sich Erkenntnisse über menschliches Versagen in der Medizin auf die Kunst übertragen? Schließlich lebe Kunst doch vom normensprengenden Fehler.

In einem stark französisch prononcierten, teilweise schon albernen Englisch offenbarte anschließend Professor de Leval die weniger überraschende Entdeckung, daß menschliches Handeln und somit auch medizinisches Scheitern von mehreren, sich überlagernden Faktoren abhängig sei – verhaltensbezogene, technische, umweltabhängige. Dazu reichte er viele bunte Dias: von seinem Vater, von Herzklappen, zahlreichen Tabellen und Diagrammen und von Andre Agassi.

Nett, aber sehr wenig erleuchtend all das. Spannend wurde es erst zum Schluß. De Leval forderte eine „Kultur der Fehler“, eine nicht-lineare, praktisch chaostheoretische Denkweise. Fehler sollten ihre negative Aura verlieren, damit man im positiven Umgang und mit Hilfe von Computern und Virtual Reality lernen könnte, Fehler wirklich zu erforschen und zu verhindern. In einer auf linearem Denken basierenden Gesellschaft wie der unsrigen bringe der Einbezug von Nicht-Linearität natürlich auch die Frage nach individueller Verantwortlichkeit mit sich. Anstatt aber diesem nicht uninteressanten Problem nachzugehen, klang der Abend mit eher harmlosen Nachfragen des Expertenpublikums aus.

Systemtheoretisch unbefriedigt wurde der Autor schließlich wieder ins gewöhnliche Leben entlassen. Die Mediziner durften noch ein bißchen Konversation betreiben. Vielleicht hätten Christina und ich noch einen trinken gehen sollen. Auf die Kunst. Christian Schuldt