Drei Nebensonnen im Zeitraffer

■ Heute abend in der Hochschule für Künste: Franz Schuberts „Winterreise“, open air und verfremdet

„Ihr werdet es bald hören und begreifen!“ antwortete Franz Schubert auf die Frage seines Freundes Friedrich von Spaun, warum er so gedrückter Stimmung sei. Die „Winterreise“ entstand, jener „Kranz schauerlicher Lieder“ aus dem Todesjahr des Komponisten 1828. An keinem seiner Werke hat Schubert so viel geändert und gefeilt. Das Thema des Wanderers, der von Gott, Liebe und Natur verlassen ist, war für Schubert die ästhetische Antwort auf eine politische Situation, wie wir sie uns heute kaum noch vorstellen können. Über 20 Prozent der BürgerInnen Wiens waren Spitzel für das Metternich'sche Terrorsystem. Der Dichter der Winterreise, Wilhelm Müller, war auf der Festung Hohenasperg inhaftiert, seine Texte waren von der Zensur richtig als politische Parabeln verstanden worden.

Der Fremde, der Einsame, der Winterreisende – Schuberts Musik wurde damals nicht einmal von Schuberts besten Freunden verstanden.

Heute abend erklingt der Zyklus in der Hochschule für Musik. Aber nicht in der originalen Besetzung für Stimme und Klavier, sondern in einer Instrumentation des Komponisten Hans Zender, die dieser „komponierte Interpretation“ nennt. „Zender nimmt vor allem den gesellschaftspolitischen Aspekt des Stückes auf“, erläutert der Dirigent der Aufführung, Martin Fischer-Dieskau. Über die Instrumentation entsteht eine geradezu eisige Kälte; die Singstimme, die auch sprechend eingesetzt wird, erklingt verzerrt, verstärkt, zerbrochen. Das Lied „Die Nebensonnen“, in dem sich der Winterreisende drei Sonnen ausgesetzt sieht, die er nicht loswerden kann, gestaltet Zender in drei übereinandergelagerten Schichten: dem Original von Schubert, einem Zeitraffer und einer Zeitlupe.

Die Behandlung der Sprechstimme erinnert – wider allen sentimentalen Schöngesang – an das, was Schuberts Freund Leopold von Sonnleithner schon zu dessen Lebzeiten sagte: „Der Liedersänger erzählt in der Regel nur fremde Erlebnisse und Empfindungen, er stellt nicht die Person vor, deren Gefühle er schildert“. Hans Zender hat sich mehrfach komponierend mit Interpretation befaßt, er hat Chöre von Schubert bearbeitet und Klavierpréludes von Claude Debussy.

Die Aufführung für 25 InstrumentalistInnen ist an sich schon eine kleine Sensation, die noch verstärkt wird durch die Zusammenarbeit mit drei Malerinnen aus der Klasse Jürgen Wallers. Die haben sich nämlich für den Innenhof an der Dechanatstraße für die Aufführung ein open-air-Ambiente ausgedacht. Nora Husmann, Bettina Suhr und Vanessa Zägel haben sich mit der „Winterreise“ beschäftigt und gestalten einen Raum unter dem Aspekt: „Was er singt, denkt und fühlt, ist zwar wirklich, aber auch Traumwelt“.

Für Martin Fischer-Dieskau, seit 1995 Professor für Dirigieren in Bremen, verbindet sich mit diesem Projekt auch etwas sehr Privates: Mit keinem Stück der Musikliteratur war sein Vater, Dietrich Fischer-Dieskau, mehr verbunden als mit Schuberts „Winterreise“, mit der der Sänger in den fünfziger Jahren seinen Weltruhm begründete. „Ich arbeite da natürlich auch sehr viel für mich ab, das ist ganz toll“. usl

Heute abend, 20 Uhr, im Innenhof der Hochschule für Künste, Dechanatstraße