Sexualkunde für jedermann

■ Das Archiv für Sexualwissenschaften am Robert-Koch-Institut eröffnete seine neuen Räume in der Nähe der Charite. Die Sammlung knüpft an Magnus Hirschfeld an

In einer Glasvitrine liegen chinesische Porzellanfigürchen aus dem 19. Jahrhundert, verschlungen in den unterschiedlichsten Sexposen. An der Wand hängt die „Ahnengalerie“ der deutschen Sexualforschung: Magnus Hirschfeld, Max Marcuse, Wilhelm Reich, Felix Theilhaber, Albert Moll, Harry Benjamin und andere. Mit weiteren sinnlichen Schätzen kann das Archiv für Sexualwissenschaften, das gestern in den neuen Räumen in Mitte eröffnete, nicht aufwarten. Zwar sieht man sich in der Tradition des ersten deutschen Sexualwissenschaftlers, Magnus Hirschfeld. Doch dessen umfangreiche Sammlung wurde 1933 durch die Nationalsozialisten vernichtet. So gehört der komplette Briefwechsel zwischen Harry Benjamin und Magnus Hirschfeld zu den Kleinoden der Sammlung, die der Leiter, Professor Erwin Haeberle, zusammengetragen hat. In Metallregalen steht Fachliteratur und eine Zeitschriftensammlung, die bis ins vorige Jahrhundert zurückreicht.

Die weitere Arbeit des Archivs stellt sich Haeberle „wie eine Dreistufen-Rakete“ vor. In der Aufbauphase geht es derzeit vor allem um das Sammeln und Archivieren. In einem zweiten Schritt soll das Material für die Allgemeinheit nutzbar gemacht werden. Ob er die dritte Stufe, die Forschung, noch aktiv miterleben werde, wisse er nicht, sagte der 60jährige, für den die Sexualwissenschaft zur Passion geworden ist.

Die Präsenzbibliothek, die seit Anfang 1994 in Spandau ansässig war, wird jetzt schon von Studierenden und Doktoranden genutzt. Mit dem Umzug in die unmittelbare Nähe zur Charité ergeben sich bessere Kooperationsmöglichkeiten, zumal dort mit Professor Beier erstmals ein Sexualwissenschaftler berufen wurde.

Noch immer kocht die Sexualwissenschaft an ihrem Berliner Geburtsort auf Sparflamme. Das Archiv, das vom Robert-Koch-Institut finanziert wird, führt Haeberle quasi als One-man- Show. Seine einzigen Mitarbeiter sind bis zu fünf Langzeitarbeitslose aus dem Progamm „Hilfe zur Arbeit“ der Sozialämter. Frühere Barkeeper und Diplomphysiker werden angelernt, um die Bestände zu katalogisieren. „Es ist etwas mühsam, aber es funktioniert irgendwie“, sagt Haeberle.

Der seit 1982 bestehenden Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, die ebenfalls ein Archiv und eine Forschungsstelle mit acht ABM-Kräften betreibt, will Haeberle eine Zusammenarbeit anbieten. Zum 100jährigen Jubiläum des von Hirschfeld 1897 mitgegründeten Wissenschaftlich-Humanitären Komitees will Haeberle im nächsten Jahr einen internationalen Kongreß durchführen. Das Komitee gilt als die weltweit erste Schwulenorganisation. Was Haeberle kolossal ärgert: eine Ausstellung des Schwulen Museums zum gleichen Thema erhielt 1,9 Millionen Mark aus Lottomitteln. Sein Antrag für den Kongreß ging dagegen leer aus: Die Ausstellung hatte der damalige Kultursenator Ulrich Roloff-Momin befürwortet. Haeberles Antrag war von Wissenschaftssenator Manfred Erhardt nicht unterstützt worden. Dorothee Winden

Archiv für Sexualwissenschaft, Hannoversche Straße 27, Mitte

Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 10 bis 16 Uhr, Besuche nach telefonischer Anmeldung: 4547-3667