■ In Deutschland steht der Wehrdienst zur Disposition. Braucht eine Demokratie überhaupt Zwangsdienste?
: Zwangsjacke Wehrpflicht

„Ist die Wehrpflicht am Ende verfassungswidrig?“ fragte gestern die Zeit, und die FDP will sich dem Thema auf ihrem nächsten Parteitag widmen. Was Totalverweigerern seit zwanzig Jahren nicht gelingt, nämlich einen Diskurs über die etatistische Zwangsjacke Wehrpflicht zu initiieren, kommt nun ins Rollen. Diese Debatte ist freilich nicht durch bürgerrechtlichen Impetus motiviert, sondern durch fiskalpolitische Nöte.

Jahrzehntelang wurde die Wehrpflicht von links und rechts mythisiert. Der allgemeine Wehrdienst sichere die Einbindung der Armee in die Gesellschaft, damit kein „Staat im Staate“ entstehe. Dieser politische Mythos wird in Deutschland sowohl im linken wie im rechten Lager getragen, wenngleich mit unterschiedlichen Motiven. 1950 lehnte die SPD die Einführung einer militärischen Dienstpflicht ab, und noch 1956 empfahl der Parteivorstand eine Freiwilligenarmee. Die Linke konnte darauf verweisen, daß die Nazis unter Verstoß gegen völkerrechtliche Verträge 1935 die Wehrpflicht eingeführt hatten. Nachdem sich die normative Kraft des Faktischen durchsetzte und die Bundeswehr als Berufsarmee mit Wehrpflichtigenanhang im Ost- West-Konflikt mit Zustimmung der SPD aufgerüstet wurde, mußte freilich ein neues Geschichtsbild her. Jetzt avancierte die Reichswehr zum „Staat im Staate“, der, ungehindert durch gesellschaftliche Bande, zur Zerstörung der ersten deutschen Demokratie beigetragen tragen habe. Die Geschichte der Weimarer Republik zeigt jedoch, daß der Militarismus Ausdruck der politischen Kultur der herrschenden Eliten und keineswegs ein gesellschaftlicher Fremdkörper war.

Die Alliierten hatten nach dem 1. Weltkrieg die Wehrpflicht verboten, wohl auch deswegen, weil sie um die im wortwörtlichen Sinne verheerenden Sozialisationswirkungen des allgemeinen Wehrdienstes wußten. In den USA hatte es bis 1940 keine Tradition der Wehrpflicht gegeben. Der renommierte amerikanische Historiker Howard Zinn schreibt in „A People's History Of the United States“: „Was wie die Demokratisierung des Militärs in modernen Zeiten aussieht, stellt sich als etwas anderes heraus: eine Art, eine große Zahl von unwilligen Leuten zu zwingen, sich mit der nationalen Sache zu identifizieren.“ Mag sein, daß die politisch-militaristische Erziehung der Bundeswehr unter den Rekruten, die auch die Sozialisationsspuren der individualisierten Konsumgesellschaft mit sich tragen, nicht so erfolgreich ist wie erhofft. Die Erfahrung mit vierzig Jahren Bundeswehr und den jährlichen Bundeswehr-Sozialisationsberichten der Wehrbeauftragten demonstrieren allerdings: Nicht die Berufssoldaten werden durch die Rekruten sozialisiert, sondern die Wehrpflichtigen durch die Berufssoldaten, die die Entscheidungsstrukturen bestimmen. So vermengt sich bei den Anhängern der Wehrpflicht eine fast romantische Überhöhung der Einflußmöglichkeiten der (in weiten Teilen um ihre Bürgerrechte amputierten) „demokratischen Heloten“ – sprich Rekruten mit andererseits merkwürdig kleinlauten politischen Kontrollbegehren der Zivilgesellschaft gegenüber der Bundeswehr.

Eine neueste Variante dieses deformierten Kontrollkonzepts findet sich nun im Zusammenhang mit der Out-of-area-Thematik. Nun heißt es, die Wehrpflicht könne den weltweiten Einsatz der Bundeswehr bremsen oder verhindern. Sehen wir einmal davon ab, daß dieses aktuelle Argument die jüngste Geschichte bundesdeutscher Out-of-area-Einsätze verzerrt, weil es vergessen macht, daß vor allem deutsche Politiker für die Intervention der Bundeswehr in Exjugoslawien plädierten, während namhafte Militärs zur Zurückhaltung rieten (also die Armee keineswegs als Staat im Staate agierte). Realität ist die Zweiteilung der Bundeswehr – hie Landesverteidigung mit Berufssoldaten und Rekruten, dort der Aufbau von Krisenreaktionskräften, die mit ihrer mittlerweile auf zehn Monate reduzierten Wehrdienstzeit für Einsätze out of area nicht vorgesehen sind und erst recht nicht dazu gezwungen werden, auch wenn es freiwillige Rekruten geben wird.

Ein auf den ersten Blick pragmatisches Motiv für die Beibehaltung der Wehrpflicht bringt die Bundesregierung mit Sympathie verschiedener Verbände vor: Mit dem Wegfall der Wehrpflicht entfiele auch dem Zivildienst die rechtliche Grundlage. Damit stiegen aber die Kosten im Gesundheits- und Sozialbereich auf ein weiteres. Allerdings kann die zweifelhafte Praxis, Zivildienstleistende als billige Arbeitskräfte auszubeuten, um strukturelle Defizite im Sozialsystem zu verfestigen, indem sie überbrückt wurden, kaum diesen eklatanten Eingriff in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit rechtfertigen.

Ins Bild paßt auch, wenn neokonservativ mutierte 68er für eine allgemeine Dienstpflicht plädieren. „Aber was spräche gegen eine republikanische Dienstpflicht?“ fragt beispielsweise Mathias Greffrath in der taz vom 6. 3. 1996. Vor eineinhalb Jahren frappierte der bislang durch seine fundamental staatskritischen Politikanalysen bekannte Berliner Friedensforscher Ekkehart Krippendorff mit kruder Dialektik: Wer heute von mehr Demokratie und morgen von mehr Selbstbestimmung spreche, müsse eine allgemeine Dienstpflicht entwickeln. Dies sei ein kleiner Schritt zur Überwindung der Erwerbsgesellschaftsmentalität. Doch diese Sehnsucht nach Zwangsdiensten kollidiert mit demokratischen Prinzipien. Denn es hat sehr wohl seinen demokratischen Sinn, daß Staaten Bürger nur in Ausnahmesituationen zwangsverpflichten. Nur totalitäre Gesellschaften verfahren anders, dort gibt es geradezu eine Inflation persönlicher Dienste. Die Anhänger der allgemeinen Dienstpflicht sollten deshalb eine zivile Bildungsreise ins Nachbarland Niederlande absolvieren, um die zivilgesellschaftlichen Bedingungen zu studieren, in denen jeder vierte Erwachsene freiwilliges soziales Engagement praktiziert. Zwangsdienste jeglicher Couleur widersprechen den freiheitlichen Prämissen eines demokratischen Gemeinwesens. Ingo Zander