„Wir machen uns keine Illusionen“

■ Aslambek Kadijew, seit 1995 als Vertreter Tschetscheniens in Europa unterwegs, über Boris Jelzins Bereitschaft zum Frieden

In Tschetschenien haben nach Angaben der moskautreuen Regierung in Grosny 70 Prozent der Wahlberechtigten für Jelzin gestimmt. Die Angaben basieren auf vorläufigen Ergebnissen, weil die Auszählung über Nacht aus Sicherheitsgründen eingestellt wurde. Unklar ist auch, ob die Voten der mehreren zehntausend russischen Soldaten in der Kaukaususrepublik berücksichtigt wurden.

Jelzin hatte die Beendigung des Krieges gegen tschetschenische Unabhängigkeitskämpfer zu einem seiner zentralen Wahlkampfthemen gemacht. Vor der Wahl begann er mit Friedensgesprächen und ließ die ersten Truppen abziehen. Die 19monatigen Kämpfe kosteten schätzungsweise 30.000 Menschen das Leben.

taz: Boris Jelzin hat die Stichwahl für das Präsidentenamt gewonnen. Was bedeutet das für die Entwicklung in Tschetschenien?

Kadijew: Natürlich haben wir die Hoffnung, daß mit dem Wahlsieg Jelzins in Tschetschenien wirklich eine Friedenslösung erreicht wird. Doch große Illusionen machen wir uns nicht. Rußland hat bis jetzt immer wieder bewiesen, daß es seine Versprechungen nicht hält. Wie oft wurden schon Feuerpausen und Waffenstillstände verkündet. Jedesmal hat sich Rußland darüber hinweggesetzt und versucht, die internationale Staatengemeinschaft zu hintergehen. Was unsere Seite betrifft, kann ich sagen: Wenn Moskau uns Verhandlungen vorschlägt, sind wir dazu bereit. Wenn die russische Regierung nur mit Waffen spricht, werden wir in gleicher Weise antworten.

Was erwarten Sie denn von Lebed? Schließlich hat er vor kurzem ja selbst von der Möglichkeit eines Referendums in Tschetschenien gesprochen.

Das ist im Moment schwer einzuschätzen. Lebed hat sich im Verlauf des Krieges sehr widersprüchlich geäußert. Gleich zu Beginn hat er den Krieg kritisiert, in erster Linie wohl deshalb, weil ihn seine politischen Gegenspieler angefangen haben. Seine Kritik ging in die Richtung: Der Krieg war schlecht vorbereitet, er wird schlecht geführt, und jetzt könne man ihn nicht einfach abbrechen. In einem Interview hat er etwas später einmal gesagt: „Wenn Tschetschenien die Selbständigkeit will, soll es sie bekommen. Wir müssen die Truppen abziehen und die Grenzen dichtmachen. Dann werden wir ja sehen, was aus Tschetschenien wird.“ Erst nachdem ihn Jelzin in seinen Kreis aufgenommen hat, hat Lebed seine Position geändert.

Wie müßte eine Friedenslösung für Tschetschenien aussehen?

Frieden in Tschetschenien wird es erst dann geben, wenn das tschetschenische Volk seinen Willen, was den zuküftigen Status Tschetscheniens betrifft, frei äußern kann. Das heißt: freie Wahlen und ein Referendum. Die Voraussetzungen dafür sind nicht erfüllt. Deshalb haben Leute wie wir die Präsidentenwahlen ignoriert.

Welche Rolle sollte der Westen künftig spielen?

Bisher hat der Westen, was den Krieg in Tschetschenien angeht, gegenüber Rußland schwere Fehler gemacht. Länder, die immer wieder ihre tiefe Verbundenheit mit den Menschenrechten betonen, haben gegenüber Tschetschenien mit einen „doppelten Standard“ gearbeitet. Um den Preis einer Wiederwahl Jelzins und der Fortsetzung des Reformkurses haben diese Staaten den schmutzigen Krieg in Tschetschenien unterstützt, nicht zuletzt mit Milliardensummen, die Rußland zur Verfügung gestellt wurden. Anstelle von Protest wurde geschwiegen. Wenn die Voraussetzungen für freie Wahlen geschaffen sind, muß es die Aufgabe des Westens sein, die getroffenen Vereinbarungen wirklich zu garantieren. Dazu müssen internationale Beobachter nach Tschetschenien entsandt werden. Interview: Barbara Oertel