Mal Lichtgestalt, mal nuschelnder Zombie

Die Regenerationsfähigkeit des Mannes ist phänomenal. Mehrmals erlebte Jelzin eine Wiedergeburt  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Daß Boris Nikolajewitsch am Ende die Nase vorn hatte, verdankt er nicht nur den gewaltigen finanziellen Mitteln, die sein Stab in den Wahlkampf investieren konnte. Jelzins Sieg im Lande wäre undenkbar ohne den Sieg über sich selbst. „Ich erlebte ihn gefaßt, fit und mit Durchblick, als wären die letzten fünf Jahre in seinem Leben einfach gestrichen“, so schilderte Jegor Gaidar eine Begegnung mit dem russischen Präsidenten in diesem Frühjahr. Es war dieses Treffen, das den Ex-Ministerpräsidenten und Reformpolitiker veranlaßte, sich nach langem Zögern doch wieder hinter den Präsidenten zu stellen. Zwei Herzinfarkte und die bekannte Neigung zum Alkohol hatten das wandelnde Symbol des neuen Rußland Ende letzten Jahres zum nuschelnden Zombie gemacht.

Als aber der Wahlkampf seine politische Zukunft in Frage stellte, ließ Boris Nikolajewitsch die Finger von der Flasche, speckte 14 Kilogramm ab und absolvierte ein eisernes Fitneßprogramm. Die kluge und humorvolle Tochter Tatjana, Mutter eines Teenager-Sohnes und eines Säuglings, ließ alles stehen und liegen, um seinen Wahlkampf zu managen. Das Ergebnis zeigte, daß die Regenerationsfähigkeit dieses Menschen, wie bereits früher bewiesen, phänomenal ist. Er löste sich geistig aus der Umklammerung seiner zu gewaltsamen Lösungen neigenden Machtminister und konnte es sich letzten Monat sogar erlauben, vier von ihnen zu entlassen. Für die russische Öffentlichkeit wurde der Präsident damit wieder zur selbständigen Größe.

Zweimal schon erlebte Boris Jelzin eine politische Wiedergeburt. Der Parteisekretär von Swerdlowsk (heute Jekaterinenburg) im Ural war von Michail Gorbatschow zum KPdSU-Chef der Hauptstadt Moskau ernannt worden. Schon bald allerdings mißfiel dem Generalsekretär Jelzins Treiben auf diesem Posten. Er warf ihm „unmenschlichen Umgang“ mit Kadern vor, nachdem einige Bonzen aus der Stadtverwaltung ihren Hut hatten nehmen müssen.

Vor allem aber störte es die Parteispitze, daß sich der neue Moskauer Parteichef inkognito in Bussen und Käuferschlangen unters Volk mischte, um ihm aufs Maul und auf die Finger zu schauen. Noch heute ist nicht bekannt, ob es ein erster Herzschlag war, ein Attentat oder ein Selbstmordversuch, was Jelzin damals ins Krankenhaus brachte. Jedenfalls zitierte Gorbatschow den von den Kreml-Ärzten mit Drogen vollgepumpten Schwerkranken in die Stadtparteiversammlung, um ihn öffentlich zu kritisieren und abzusetzen.

Kaum genesen, kämpfe Boris Nikolajewitsch um seine Rehabilitierung. Er wütete, wo immer sich Gelegenheit bot, gegen die Privilegien-Wirtschaft der Nomenklatura. 1989, als die MoskauerInnen zum ersten Mal frei einen Kandidaten in den Obersten Sowjet wählen durften, brauchte Jelzin, anders als heute, keine Wahlclips und keine Popkonzerte.

Im Juli 1991 wurde Boris Jelzin dann bei strahlend blauem Himmel im Kreml zum ersten frei gewählten Präsidenten Rußlands ernannt. Gestern noch ein tapsiger Bär aus dem Ural, betrat er nun die internationale Bühne. Jelzins zweiter strahlender Morgen in jenem Jahr steht der Welt noch gut vor Augen. Es war der 19. August. Eine Gruppe von Altkommunisten hatte in der Nacht den letzten Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, für abgesetzt erklärt. Nach seiner Pressekonferenz ging Jelzin auf jene Menschen zu, die sich aus Protest gegen den Putschversuch am Flußufer vor dem Weißen Haus in Moskau versammelt hatten. „Na Tank! Auf den Panzer!“ skandierten die Bürger. Jelzin zögerte. Dann, entschlossen, erklomm er einen der Panzer, die die Putschisten am Regierungssitz aufgestellt hatten, und rief zum Widerstand auf.

Dennoch war das Schicksal Gorbatschows damit besiegelt. Denn diese Geschichte endete mit dem Zerfall der Sowjetunion. Präsident Jelzin residierte danach im Kreml und machte sich dort fürs Volk zunehmend unsichtbar. Die BürgerInnen begriffen, daß Boris Nikolajewitsch nicht das Reich der Gerechtigkeit verwirklichte, sondern eine höchst ungerechte Privatisierung der staatlichen Vermögen. Rußland hatte sein Gesellschaftssystem gewechselt, aber die herrschende Klasse war die gleiche geblieben: die Bonzen von einst. Jelzin kritisierte deren Privilegien mit keinem Wort mehr.

Er teilt heute das Schicksal aller großen Revolutionäre, die sich nicht bewußt waren, wessen Interessen sie objektiv verwirklichten. Aber noch einmal, im April 1993, als die Konfrontation zwischen ihm und dem in alten Strukturen befangenen Obersten Sowjet sich zugespitzt hatte, vermochte Jelzin die RussInnen zu seinen Gunsten zu mobilisieren. In einem Referendum unterstützten sie seinen Reformkurs und stimmten für eine neue Verfassung. Der Konflikt zwischen Jelzin und dem Obersten Sowjet jedoch sollte eskalieren.

Dann kam der 3. Oktober 1993, den der Präsident später als „schwarzen Tag in der Geschichte des neuen Rußland“ bezeichnen sollte. Gegen Abend schossen und brandschatzten die ultranationalistischen Freischärler General Albert Makaschows in Moskaus Straßen. Jelzin fand es „unerträglich“, daß niemand die Moskauer gegen die „bewaffneten Banditen“ verteidigte. Die Abgeordneten des Obersten Sowjet unter Leitung von Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow verschanzten sich derweil im Weißen Haus. Am 4.Oktober ließ der Präsident schließlich den Parlamentssitz durch das Militär stürmen. Offiziellerseits zählte man über hundert Tote. Das Land versank in Depression.

Gleich im Januar 1994 amnestierte die neue Duma alle an den Oktober-Unruhen Beteiligten wieder, dazu die Putschisten vom August 1991 – und der Präsident stimmte alledem zu. Dieser Schritt, wie auch seine folgenden Handlungen, blieben seinen einstigen AnhängerInnen unverständlich. Und wenn er ein Treffen mit dem irischen Ministerpräsidenten „verschlief“ oder in Berlin ein Orchester „dirigierte“, schämte sich sein Volk für ihn. Die schlimmsten Befürchtungen der BürgerInnen angesichts eines solchen Führers bewahrheiteten sich.

Im Dezember 1994 brachen er und seine specknackigen Rasputine den Tschetschenien-Krieg vom Zaun. Ein blutiges Gemetzel, das ihm im Ausland viel Kritik einbrachte. Im Januar 1996 ließ Jelzin zu, daß das Dorf Pjerwomajskoje in Dagestan, wo tschetschenische Terroristen russische Frauen und Kinder als Geiseln hielten, durch Bomben zur Feuerhölle wurde. Seine einstigen WählerInnen gewannen den Eindruck, daß ein Menschenleben für die neue Staatsmacht ebensoviel wert war wie für die alte: keine Kopeke. Zu diesem Zeitpunkt hätten ihm kaum fünf Prozent der RussInnen ihre Stimme gegeben.

Und heute? Nach seinem beispiellosen Endspurt zeigte der neue Präsident letzte Woche Ermattungserscheinungen und sagte Veranstaltungen ab, westliche Medien spekulierten, er würde wohl nicht wieder der alte. „Boris Nikolajewitsch hat eben nicht nur die Fähigkeit, wie ein Phönix aus der Asche aufzusteigen, sondern er kann auch in den Schatten abzutauchen und sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen“, spottete in der Wahlnacht die Politikerin Galina Starowojtowa. Um sogleich zu fragen: „Aber sollte man nicht manchmal der Geschichte ihren Lauf lassen?“

Härter formulierte es eine vom russischen Fernsehen auf der Straße befragte Jelzin-Wählerin: „Wir haben ihn gewählt, und jetzt werden wir ihm die Bedingungen diktieren. Rußlands Entwicklung vollzieht sich unabhängig von Boris Nikolajewitsch. Wir hoffen, daß er mit ihr Schritt hält.“