Gelbe Karte für die Roten

■ Die RussInnen wollen Ruhe - vor den Kommunisten und dem ewigen Wählen. Boris Jelzin hat jetzt die Chance, Schlüsselpositionen mit frischen Leuten zu besetzen Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Gelbe Karte für die Roten

Ist Boris Jelzin wieder ernsthaft krank? Den russischen Wähler interessierte es wenig. Ob wohlauf oder bettlägerig – es war dem Wahlvolk ziemlich gleichgültig. Es lieh dem alten stimmlosen Präsidenten seine Stimme, auch wenn dieser in den letzten Tagen auf mysteriöse Weise abgetaucht war. Der russische Bürger bestätigte damit einmal mehr, daß der Urnengang keiner Person, sondern der staatlichen Verfaßtheit des Landes galt. Rußland hat sich entschieden: für die Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses und gegen jegliche Verwerfungen, die das Land erneut in die Tiefe gerissen hätten. Die Russen wollen Ruhe – auch vor dem ewigen Wählen. Sechsmal rief man sie in den vergangenen fünf Jahren an die Urnen. Der letzte Durchgang der Präsidentschaftswahlen offenbarte eindrücklich: mittlerweile ist es business as usual.

Im ganzen Land blieb es ruhig, Leidenschaften entflammten nicht mehr, dafür nahmen erneut mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten ihr Recht wahr. Erteilten die Russen im ersten Durchgang den ultrarechten Kräften um Wladimir Schirinowski eine klare Abfuhr, wiesen sie in der Stichwahl die Kommunisten in ihre Schranken.

Nach Bekanntgabe des Ergebnisses kehrte Boris Jelzin freudestrahlend in die Öffentlichkeit zurück, erleichtert und scheinbar genesen. Er bedankte sich in einer kurzen, versöhnlichen Fernsehansprache bei den Wählern: Es gebe weder Sieger noch Besiegte. Ob er damit bereits eine Richtung für die anstehende Regierungsbildung vorgibt, ist noch unklar. Premierminister Viktor Tschernomyrdin erhielt indes den Auftrag, so schnell wie möglich ein neues Kabinett zusammenzustellen. Bisher hatte sich Jelzin nicht dazu durchringen können, Vertreter der Kommunisten mit in die Regierung einzuschließen. Tschernomyrdin behält sein Amt als Regierungschef. Der Vorsitzende der Staatsduma, der Kommunist Selesnjow, deutete an, das Parlament könnte den Amtsinhaber schon im ersten Wahlgang bestätigen.

Darauf läuft es wohl auch hinaus. Bleibt Tschernomyrdin den Kommunisten erhalten, müssen sie die Richtung ihrer Kritik nicht ändern. Man kennt die Schwächen und Leidenschaften des Gegenübers. Dennoch machen sich die Kommunisten Hoffnungen auf einige Regierungsämter. Ihre Zustimmung im Parlament könnten sie letztlich damit verknüpfen. Selesnjow griff ziemlich hoch hinaus und verlangte für seine Partei den Posten eines stellvertretenden Vizepremiers. Wenn überhaupt, stünde es dem unterlegenen Widersacher Gennadi Sjuganow zu.

Doch Jelzin, dessen brennender Antikommunismus ihm noch einmal die Kräfte zum letzten Sieg verlieh, wird sich kaum mit dem farblosen Apparatschik an einen Tisch setzen. Will der frisch bestätigte Präsident die Chancen des Neuanfangs nicht vertun, muß er neue Leute mit frischen Ideen in Schlüsselpositionen berufen.

Wie altgediente Lobbyisten Reformansätze unterlaufen und die Interessen einer kleinen Klientel auf Kosten des Staates vertreten, hat er noch deutlich vor Augen. Erst vor zwei Wochen entließ er Vizepremier Oleg Soskowez, den Repräsentanten des militärisch-industriellen Komplexes, der sich auf nichts als die administrative Kommandowirtschaft verstand und kräftig absahnte. Allerdings wäre es falsch, würde Jelzin die Kommunisten ganz außen vor lassen. Gewöhnlich färbt die Umgebung ab. Die Möglichkeit, den Widerstand der parlamentarischen Mehrheit der Kommunisten langsam aufzuweichen, die Kommunistische Partei in ihre Bestandteile zu zerlegen, hat Aussichten auf Erfolg. Seit langem rumort es in ihren Reihen, Sjuganows Niederlage wird den Lärm noch einmal verstärken.

Doch auch für ihn gibt es innerparteilich zur Zeit keine Alternative. Am Ende zerfällt die KP in einen radikalen Flügel und jene Kräfte, die einen sozialdemokratischen Weg favorisieren. Schon bei den nächsten Wahlen marschieren beide getrennt. Was heute oberflächlich betrachtet aussieht wie ein mächtiger homogener Block, wird dann nur noch eine Minderheit sein.

Trotz aller Unkenrufe und der Unzufriedenheit gerade der ländlichen Bewohner haben die Wahlen bestätigt, daß sich Rußlands Wirtschaft langsam fängt und viele Bürger mittlerweile in der Lage sind, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Zwei Drittel der Bevölkerung lebt besser als früher, die Tendenz wird anhalten. Mit Beginn des nächsten Jahrtausends sagen ausländische Wirtschaftsexperten Rußland eine der höchsten Wachstumsraten voraus. Eine der Hauptaufgaben, die die neue Mannschaft zu bewältigen hat, ist die seit Jahren anhängige und leidige Frage der Landwirtschaftsreform. Die Unzufriedenheit in der Provinz muß endlich in Moskau Beachtung finden. Nationalistische und chauvinistische Propaganda, wie sie die Kommunisten pflegten, verfängt gerade hier. Dieses Mammutprojekt den Kommunisten zu überlassen könnte sich fatal auswirken. Wer früher Landwirtschaftsminister wurde, wußte, er war oben in Ungnade gefallen oder man traute ihm nichts zu. Heute sollten sich die hellsten Köpfe damit befassen. Denn das Land muß endlich in der Lage sein, sich selbst zu versorgen.

Die ungeheuren Lebensmittelimporte aus dem Westen gießen Wasser auf die Mühlen verantwortungsloser Chauvinisten, die daraus Ausverkauf, Überfremdung und Unterjochung durch den Westen ableiten. Sie unterschlagen selbstverständlich, daß auch die Sowjetunion ohne Einfuhr aus dem Westen die Bäuche nicht gefüllt hat. Obwohl Rußland für eine offene Gesellschaft votiert hat, ist die Gefahr eines Rückfalls in ein semiautoritäres Regime nicht endgültig gebannt. Kapitalismus durchaus, doch gepaart mit einem starken, aggressiven Staat, der zwischen Isolation und Öffnung schwankt, der die Idee der „gosudarstwennost“, der Staatlichkeit, wieder über die Interessen des Individuums setzt. Derlei Tendenzen ließen sich in den letzten drei Jahren beobachten. Jelzins neuer Chef des Sicherheitsrates, Alexander Lebed, hat seine politische Verortung noch nicht endgültig vorgenommen. Läuft indes einiges schief in den nächsten Monaten, und erfährt er nicht den nötigen demokratischen Feinschliff, könnte sich der ehemalige General zum Protagonisten dieser Ideologie aufschwingen.

Lebed verhalf dem Präsidenten mit seinen Stimmen zur Wiederwahl. Der strahlende Sieger der ersten Runde war der Star zwischen den Wahlen. Am Tag danach beherrschte wieder Viktor Tschernomyrdin die Medien. Business as usual. Ein unverkennbares und beruhigendes Zeichen demokratischer Herrschaftsausübung.